Die tiefe Geschichte Europas offenbart nicht nur gruselige Anklänge an frühere nationalsozialistische Vorstellungen der fernen kontinentaleuropäischen Vergangenheit, sondern scheint sich auch in eine zwölf Jahrtausende umspannende, vormoderne historische Entwicklung einzufügen, die ein englischer Archäologe Die Geburt Eurasiens nennt.
Natürlich will keiner der zeitgenössischen Forscher mit politischen Wahnvorstellungen in einen Topf geworfen werden, weswegen vor allem andern Distanzierung angesagt ist – Distanzierung vom “wissenschaftlichen Arier-Mythos der Deutschen” (siehe z.B. “Digging for Hitler”), aber auch jenem des britischen Emprie.
Dieses Abrücken ist auch sachgerecht,
- weil die Rassenwissenschaft anno Adolf oft einfach falsch war,
- weil die Nationalsozialisten “wissenschaftliche Erkenntnisse” systematisch vereinfachten bzw. verzerrten um sie politisch nutzbar zu machen;
- aber auch – und dafür können die Nazis nichts – weil Feinde deren Ideologie verballhornten und ins Lächerliche zogen (“Blond wie Hitler, schlank wie Göring, groß wie Goebbels”);
- vor allem aber, weil der NS-Staat unter dem Banner der Arier-Ideologie Völkermord begangen und “ethnisch gesäubert” hat, was das Zeug hielt.
Die Erkenntnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten über die historisch fassbaren Indogermanen/-europäer gesammelt bzw.gesichert wurden, sind mit diesem Zerrbild nicht identisch, diesem aber nicht völlig unähnlich.
Kulturferne Herrenschicht?
Die Indoeuropäer, die im alten Indien als Arier bezeichnet wurden, waren Hirtennomaden aus der pontisch-kaspischen Steppe, die geographisch erst viele tausend Kilometer weiter östlich, in Ost-Asien endet.
Sie haben vor etwa 6.000 Jahren zu wandern begonnen – ein Teil nach Westen/Osteuropa und ein anderer Teil nach Osten bzw. Süden, in den heutigen Iran (der heutige Name Persiens trägt die Arier-Wurzel in sich) bzw. ins nördliche Indien.
Sie haben als erste das Pferd gezähmt und – “Flachland, so weit das Auge reicht” – Rad und Wagen erfunden, was ihnen einen entschiedenden militärischen Vorteil gegenüber den eingesessenen Völkern eintrug, in deren Gebiete sie migrierten.
Sie waren ein Kriegeradel (eine “Elite”, wie man heute sagten würde), der freilich keine eigenen Stämme oder gar Staaten bildete, sondern einer, der sich mit den zivilisatorisch oft höher stehenden “Ureinwohnern der Zielgebiete” mischte und dabei meist deren Kultur und Technologie übernahm (sich “akkulturierte”).
Das gilt auch für eine ev. bereits vorhandene Schrift – mit dem Schreiben “hatten es die Ur-Arier bzw. ihre Nachkommen nicht so ganz” - und auch nicht mit der Metallurgie, etc.
Seltsamerweise gelang es der eingewanderten Oberschicht aber, den Ureinwohnern ihre Sprache bzw. die Lexik und Bauprinzipien ihrer Sprache “überzustülpen”.
Das führte dazu, dass heute hunderte Völker von den Portugiesen bis zu den “Sanskrit-Indern” (ein bisschen) ähnliche Sprachen sprechen (was z.B. Haarmann dazu verleitet von einer “Globalisierung” der indoeuropäischen Sprachen zu sprechen – siehe Englisch, Spanisch, Französisch, Portugiesich…).
Diese Globalisierung ist freilich das Produkt eines Zeitalters, das man atlantisch und nicht eurasisch nennen könnte.
Vor-indoeuropäisches “Alteuropa”
Der weitaus überwiegende Teil des (relevanten) Erbguts der heutigen Westeuropäer stammt freilich von früheren, sozusagen alteuropäischen Jägern und Sammlern, die zum Zeitpunkt der Indoeuropäisierung schon sesshaft waren.
Dazu kommen Gene von Einwanderern aus Asien (aber keinen Türken oder Arabern), die in der ältern Jungsteinzeit Viehzucht und Ackerbau nach Südosteuropa gebracht haben – eine “Mode”, sie sich über viele Jahrhunderte weiter nach Westen fortpflanzte.
Diese “neolithische Revolution des Ackerbaus” war ein langgezogener, enorm komplizierter Prozess, über den ganze Generationen von Archäologen. Linguisten und Kulturwissenschaftern diskutieren konnten und können.
Klar ist mittlerweile immerhin geworden, dass die Indoeuropäer nicht aus Kleinasien gekommen sind, wie noch vor ca. 50 Jahren gemutmaßt worden war.
Der wahrscheinlich führende Experte für die Indoeuropäer ist heute der aus Deutschland stammende Linguist Harald Haarmann, der sich seit 30 Jahren mit dem Thema beschäftigt (und fast 20 Sprachen zumindest versteht).
Haarmann, dessen 2012 und 2016 publizierte Bücher dieser Blogger überflogen hat, hat den Vorteil, nicht nur sprachwissenscaftliche Befunde, seiner “Heimatdisziplin” zu verwenden, sondern auch welche aus der Humangenetik, der Kulturwissenschaft oder der historischen Klimatologie, etc.
Er gilt als benchmark für jemanden, “den der Wald interessiert” – aber nicht unbedingt dessen Einzelbäume.
Seltsamerweise wird Haarmann von seiner Kollegenschaft heute mit Schweigen übergangen und der Grund dafür lautet “Alteuropa”/”Donauzivilisation”.
Der Indoeuropa-Spezialist ist der Meinung, dass die zahllosen stein- bzw. kupfersteinzeitlichen Siedlungen (Süd)Osteuropas eine autochthone vor-indoeuropäische Zivilisation gewesen seien, eine egalitäre und friedliche noch dazu;
und dass sie mit Ägypten, Mesopotamien und dem Industal zu vergleichen seien, freilich ohne dass ein Zentralstaat gebildet worden wäre.
Diese steinzeitlichen “Alteuropäer” hätten bereits eine eigene Schrift gehabt und die Griechen bzw. Proto-Griechen “zivilisiert”.
Das ist natürlich Teufelszeug in Disziplinen, wo seit 200 Jahren gepredigt wird, die Griechen seien aus dem Nahen Osten bzw. aus Nordafrika erleuchtet worden (“ex oriente lux”).
Geburt Eurasiens
Die Indoeuropäisierung der Landmasse zwischen Europa und China, erläutert ein ganz anderer Autor, nämlich der Brite Barry Cunliffe in einem vor kurzem erschienen opus magnum, sei Teil der “Geburt Eurasiens” – einer wahrlich langen Entbindung, die vor 11.000 Jahren, beim (vorläufigen) Ende der letzten Eiszeit begonnen habe und die er um etwa 1.300 beendet.
Es ist etwas, das Journalisten als einen “vorläufigen Schlusspunkt” bezeichnen würden.
Die steinzeitlichen Wanderungen der Indoeuropäer (-arier) nehmen für Cunliffe freilich lediglich das dritte Kapitel ein, das er
Horses and Copper: The Centrality of the Steppe, 5000–2500 bc”
nennt.
Die spätmittelalterlichen Endjahre seiner Geburt, befindet Cunliffe in seinem Schlusskapitel, markieren
in so many ways (…) the end of the old world and the beginning of the modern age.”
Cunliffe führt in der Folge die Erfindung des Schießpulvers und die in Europa erstmals (eigentlich wieder) auftretende Pest an – doch diese beiden Faktoren scheinen dem Schreiber dieser Zeilen nicht als primäre Faktoren für das vorläufige Ende der Geburt Eurasiens.
“Wärmer” wird es da schon, wenn Cunliffe den schnell gescheiterten Versuch der chinesischen Ming-Dynastie erwähnt, “China der Welt zu öffnen” sowie das erst 200 Jahre danach voll sichtbare Zeitalter der (europäischen) Entdeckungen und des Kolonialismus.
Literatur:
Harald, Haarmann, Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprache, Kultur. 2012
Harald Haarmann, Auf den Spuren der Indoeuropäer: Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. 2016
Barry Cunliffe, By Steppe, Desert, and Ocean: The Birth of Eurasia. 2015
David Anthony, Horse, the Wheel, and Language: How Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes Shaped the Modern World. 2007
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