Ein neues Buch über die indische Hauptstadt zeichnet ein Porträt einer sozialen Schicht, die, wie sie selbst meint, das 21. Jahrhundert gestalten wird: die neue Bourgeoisie in den emerging economies, gezeugt in einer Affäre zwischen World Trade Organisation und lokalem Freunderl-Kapitalismus.
Rana Desguptas “Capital. The Eruption of Delhi” zeichnet ein gleichzeitig bewunderndes und wenig schmeichelhaftes, jedenfalls aber realistisches Porträt einer Schicht, die sich als Mitteklasse versteht. Freilich hat diese wenig mit den Beamten und Bankangestellten gemeinsam, die sich hierzulande um den Begriff scharen. Die Rede ist von sozialen Aufsteigern in der Peripherie, die von der Globalisierung der vergangenen 20 Jahre profitiert haben.
Das Buch ist mit Einzelgeschichten vollgerammelt. Es geht um alkoholkranke Milliardäre und reinliche Müllmenschen, böse Schwiegermütter, geldgierige Doktoren, wahnsinnige Massenmörder und bestechliche Regierungsbeamte. Der britisch-indische Autor konzentriert sich aber auf jene Zehntausende Familien, die nach 1991 zu Reichtum gekommen sind; zu einem Zeitpunkt als die Zwangswirtschaft Jawaharlal Nehrus bzw. seiner Tochter zu Ende ging. Er erzählt Geschichten, die an die aus den kapitalistischen Gründerzeiten Europas erinnern oder auch an den Großen Gatsby Fitzgeralds.
Dasguptas heroisiert die Porträtierten nicht – obwohl er sie seitenlang, scheinbar unredigiert, zu Wort kommen lässt. Immer wieder lässt er die böse soziale Kulisse durchschimmern, vor der sich seine Erfolgsgeschichten abspielen: die für die Unteren bestimmte Armut und Gewalt. Er vergisst aber auch nicht die die existenziellen Kosten, die Tragiken im Leben seiner Helden.
„Der indische Boom gehörte den Mittelklassen und die pflegten mit Zähnen und Klausen dafür zu kämpfen. 90 Prozent waren aus dem Mittelklassen-Projekt des indischen Aufstiegs ausgeschlossen und ihr Wunsch nach mehr Einkommen und besserem Leben wurde als nicht legitim angesehen. Es war eine Reaktion auf die goldene Redensart nach der Erlangung der Unabhängigkeit: ‚Denkt an die Armen! – doch statt an sie zu denken schien die Zeit gekommen, sie zu vergessen.“
Was immer man ihnen sonst nachsagen mag – die Geschilderten führen sicherlich nicht das Leben Privilegierter, die sich nur unproduktivem Müßiggang und abgehobenem Luxus hingeben. Es sind welche, die 12 Stunden am Tag arbeiten und die einem so hohen wirtschaftlichen und sozialen Druck unterliegen, dass sie glauben, sich nicht einmal um ihre Familien kümmern können – geschweige denn um die Armen. Dafür entschädigen sie sich mit Kokain, Maserattis und Designerklamotten.
Dasgupta zeichnet keine Figuren wie John Galt, deren Karrieregeheimnis in ihrem schöpferischen Genius liegt. Und es geht ihm nicht um “Marktwirtschaft“ – jedenfalls nicht nur. Es geht auch um Korruption, Konvention und Klientelismus. Es geht um Protektion, die es im explodierenden Delhi in tausenden Facetten zu geben scheint. Crony capitalism wird manchmal dazu gesagt.
So wie dies eine der Auskunftspersonen des Autors nahe legt: “Du kannst eine Milliarde haben – aber wenn du keine Verbindungen hast, bedeutet das gar nichts.“
Mitunter ergeht sich Dasgupta in lang gezogenen Passagen, in denen die historischen Voraussetzungen erklärt werden, aus denen seine Mittelklassen-Explosion entstanden ist.
Von den echten Einheimischen, jenen, die tatsächlich noch Hindi sprechen, werden diese offenbar als langatmig und penetrant-belehrend empfunden, wie aus Bemerkungen im Cyberspace zu erschließen ist. Für diese Stimmen mag das Gesagte selbstverständlich sein. Doch Amerikaner und Europäer können daraus enorm viel über das gesamte Land lernen – nicht nur über Delhi, auch über Mumbai und Bangalore zum Beispiel.
Delhi war während der Zeit der Herrschaft der Moguln schon einmal Residenz. Es wurde erst wieder aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, als sich die Engländer 1911 entschieden, den Verwaltungssitz aus Kalkutta zu verlegen. Kaum war das neue Verwaltungszentrum fertig gebaut, kam auch schon die politische Unabhängigkeit – und die britischen Kolonialbeamten mussten Bürokraten Marke Eigenbau Platz machen.
Es folgte die Trennung von den westlichen Landesteilen, dem heutigen Pakistan, die 14 Millionen Menschen entwurzelte und einer Million das Leben kostete. Der Flüchtlingsstrom, der 1948 über Delhi hereinbrach, verdoppelte dessen Einwohnerzahl mit einem Schlag. Er schwemmte auch eine Menge Flüchtlinge aus dem Punjab in die Stadt, traditionell geschäftstüchtige Leute.
In der Folge wurde der althergebrachte genius loci „zum diametralen Gegenteil jener (Weltanschauung), die die Sufi diesem Teil der Welt aufgedrückt haben. Für diese war nur das Innenleben authentisch und alles andere – Macht, Geld, Besitztümer – sollte mit Distanz betrachtet werden. Die Dinge wurden auf den Kopf gestellt. (…) Die ältere Persönlichkeit, all die Toleranz und Beredsamkeit war, so schien man zu sagen, effeminiert und hat für uns nur zu Nachteilen geführt. Jetzt wollen wir uns um nichts kümmern, was wir nicht angreifen können und wir werden uns nicht daran hindern lassen, uns mehr zu verschaffen.“
Gucci statt Vishnu
Geschildert wird ein Phänomen, das in den 1980er und 1990er-Jahren im Westen seinen großen medialen Auftritt hatte – in den Figuren von Wall Street-Financiers wie Gordon Gecko und Sherman McCoy. Der Unterschied besteht darin, dass Dasguptas „Meister des Universums“ keine Finanzjongleure und WASPS sind, sondern Unternehmer aus Delhi, die zum Beispiel Nahrungsmittel und Autoteile verkaufen oder die mit Immobilien handeln. Sie sind, hört man ihnen zu, die Herren des heraufdräuenden weltweiten Kapitalismus.
Diese Leute verkörpern in gewisser Weise das Gegenteil der traditionellen Oberschicht, der Brahmanenkaste. Genau genommen sind sie nicht einmal mehr Inder, sondern ein globaler Adel, der der Kultur, Tradition und Geschichte ihrer Großeltern entwachsen ist.
„Die heutige gobale Elite lokalen oder wenigstens nationale Räumen viel weniger verbunden die amerikanische Elite von vor 100 Jahren. Delhi hat nichts von der überwältigenden Bedeutung, die New York für seine Super-Reichen hatte (…) die Mitglieder der Delhi-Elite sind mit ihnen Ebenbürtigen in Paris, Moskau und São Paulo identisch – indem sie Häuser in London besitzen, ihre Kinder in den Vereinigten Staaten erziehen lassen, Urlaub in St. Tropez machen, sich in Kliniken in Lausanne behandeln lassen und ihr Geld offshore halten, nirgendwo also.“
Dasguptas historisches Wissen und die Sensibilität für das Thema stammt ziemlich sicher aus dem Westen, von der mütterlichen, britischen Seite seiner Vorfahren. Er jubelt dem, was er aufzeichnet, nicht zu. Aber er spricht offen aus, dass die Lizenzwirtschaft Indira Gandhis ruhnmlos untergegangen ist. Und er ahnt, dass er nicht über den Nachhall eines lange vergangenen „Manchesterliberalismus“ schreibt, sondern über das harte Gesicht des 21. Jahrhunderts.
In einem im heurigen Frühjahr erschienenen „Zeit“-Artikel wird der 50-Jährige Schriftsteller folgendermaßen wiedergegeben: „Es ist sinnlos, (…), diese Form von Kapitalismus und Moderne “primitiv” zu nennen; sie ist nicht primitiv, sondern zweifellos ein Produkt des 21. Jahrhunderts, und nirgendwo steht geschrieben, dass sie schließlich in eine Gestalt übergehen muss, in der alle den Lebensstandard und die Weltanschauung der europäischen oder amerikanischen Mittelschicht erreichen. ‚Dies hier‘, sagt er, ‚ist die Sache, wie sie wirklich ist; dort, im Westen, ist sie verschleiert.”
Auf dem Subkontinent, behauptet er, gebe es keine lähmende Trauer über eine verlorene goldene Zeit. „Die Zukunft, der Indien sich verschrieben hat, mag ungewiss und gefährlich sein. Aber es ist eine Zukunft.“
Finale Schmerztherapie
Gerade in Europa ist die Zukunft ein Ding der Vergangenheit geworden – speziell für unsere politischen Wortführer. Es ist deren historisches Versagen, nichts von der Zukunft wissen zu wollen. Schon seit Jahrzehnten nicht.
Im Namen von, aber zum unermesslichen Schaden ihrer Enkel haben sie dem Kontinent eine finale Schmerztherapie verordnet, deren Hauptzweck es ist, so lang wie möglich den hoffnungslosen Zustand ihres Wirtschafts- und Sozialmodells zu verheimlichen; wenigstens so lange bis sie aus ihren Ämtern, besser noch: aus dem Leben geschieden sind.
Es ist gut möglich, dass sie das eine oder andere ahnen, was den Eliten aus Delhi (und deren Chronisten) entgangen sein mag: dass exponenzielles Wachstum auf die Dauer wirklich unmöglich ist.
Doch der europäistische Adel macht von diesem Wissen keinen Gebrauch. Statt sich grünes und blaues Morphium zu injiziieren, könnten er aufhören sich und andere zu belügen und anfangen, die life force kommender europäischer Generationen zu stärken. Schließlich war das die ursprüngliche Begründung, mit der die Europäisten ihre verfassungswidrige Entführung der nationalen Demokratien gerechtfertigt haben. Die Nationen des alten Kontinents, tönen sie spätestens seit Coudenhove-Kalergi, also seit wenigstens 100 Jahren, seien für sich allein genommen nicht konkurrenzfähig.
Zustandegebracht haben die Europäisten aber nur wenig.
Sie dürfen es zwar nicht zugeben – aber im Grund werden auch sie vom Traum Hitlers beseelt. Immerhin, und und das ist anerkennenswert, lehnen sie die Diktatur der Gewalttätigen ab.
Sie ziehen Polizeistaat, Spitzeltum und Realitätsverweigerung vor. Wirklich besser macht das die Sache freilich nicht. Der Wille und die Fähigkeit das 21. Jahrhundert zu überleben, sind in Delhi jedenfalls unvergleichlich größer als alles, was dazu in Europa zu finden ist.
Der Text ist mittlerweile auch in deutscher Übersetzung erschienen.
Rana Dasgupta, Capital: The Eruption of Delhi, New York, 2014
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