Elektrizität – eine Energiegeschichte unserer “Zivilisation”

question_of_power_cover_resizedVieles an unserer heutigen Lebensführung ist eine Frage des Stroms (und damit der Macht). Der Energiejournalist Robert Bryce klopft in seinem neuesten Buch das vielleicht meistunterschätzte Element der Moderne ab und macht bewusst, was dem gemeinen Smartphone-Zombie selten in den Sinn kommen mag: dass noch die Welt unserer Urgroßeltern (in deren Jugendjahren) ein dunkler und unbequemer Ort war, wo es weder elektrische Raumbeleuchtung noch fließend Wasser und Haushaltsgeräte gab.

Den ersten Teil seines Buchs widmet Bryce der Elektrifizierung in den Vereinigten Staaten,

berginnend mit dem ersten Stromnetz Edisons in Lower Manhattan Ende des 19. Jahrhunderts, über die Entwicklung des Elektromotors, der Aufzüge und mit diesen die Entstehung einer “vertikalen Stadt” ermöglicht hat.

Weiter geht’s mit den Projekten des New Deal und der Elektrifizierung des ländlichen Raums in den 1930ern sowie mit der vollständigen Verkabelung der (auch) im 2.Weltkrieg siegreichen Supermacht – was zusammen mit neuen home appliances zu einer gewaltigen Entlastung der Hausfrauen führte.

Der zweite Abschnitt ist den großen Unterschieden im Stromverbrauch der Ersten und Dritten Welt gewidmet, die er als “unplugged” oder “low watt” bezeichnet.

Neben Kapital und Brennstoff (“fuel”) ist für Bryce die Integrität der Netze entscheidend

- dass es also nicht zu viele Trittbrettfahrer, Stromdiebe und Korruption gibt. Wenn arme Länder zwischen keinem und “schmutzigem” Strom entscheiden müssten, würden sie immer Letzteres vorziehen.

Das letzte Wort des Abschnitts hat ein indischer Umweltpolitiker, der erklärt, dass in seinem Land ohne Kohle “die  Lichter verlöschen” würden.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Perspektive der “entwickelten Welt”, der High Watt Countries – vornehmlich natürlich der USA selbst.

Dort entwickle sich eine “Neue Wirtschaft” rund um stromfressende Firmengiganten wie Amazon, Microsoft, Apple, Google und Facebook.

Dort werde auch Cash elektrifiziert und digitalisiert – heute noch als herkömmliches, nicht-anonymes Buchgeld, künftig aber als vorgeblich anonyme Kryptowährung.

In der sogenannten Ersten Welt – z.B. in Colorado – fließen heute aber auch enorme Mengen Elektrizität für Indoor Powerfarming von Marihuana (“Watts into Weed”).

Strom, ein Zukunfts-Imperativ?

Der versteckte Preis solchen Überflusses sei allerdings die hohe Verletzlichkeit der Industriegesellschaften gegenüber einem Stromausfall (“The Blackout will not be televised”).

Der vierte Abschnitt schließlich behandelt die terawatt challenge des 21. Jahrhunderts

- dass nämlich im Verlauf der nächsten Generation die installierte Kapazität um weltweit sechs Terawatt mehr als verdoppelt werden müsse (um alle Menschen “an die Modernität anzuschließen”; letztlich ist derlei für Bryce freilich von geradezu  heilsgeschichtlich-religiösen Dimensionen: schon Jahwe und Allah stellen für die Gläubigen das Licht zur Verfügung).

Das moderne säkuläre Vorhaben sei ohne Erdgas und Atomkraftwerke aber nicht realistisch – die Beschränkung auf Erneuerbare sei jedenfalls eine Wahnvorstellung (“delusion”).

Mit Gas, meint unser Fanboy der Shale-Revolution, könnten die globalen Entwicklungsziele hingegen sehr wohl bewältigt werden (und natürlich mit Kernspaltung mithilfe neuer Technologien – modulare Kleinreaktoren, molten salt).

Zunächst.

Letztlich ist Bryce ein Verfechter von “N2N” (Natgas to Nuclear).

***

Dieser Rezensent hält diese Perspektiven aus unterschiedlichen Gründen trotzdem für nicht einlösbare Verheißungen.

Leider hat die Spezies homo sapiens über die vergangenen 200 Jahre eine energetische bubble aufgepumpt, in der sich die Weltbevölkerung verachtfacht hat – eine Kohle-, Öl- und Gasblase, für die kein “Nachfolger” absehbar ist

(Methanhydrate sind eine vage Möglichkeit – und später ggf. Fusionsenergie; denn nicht die Sonne ist ultimative Energiequelle, wie viele meinen – “der Urknall” macht ältere Rechte auf diese Position geltend     :mrgreen:   ).

Zweierlei ist das Verdienst des Bryce-Buchs:

  • Es räumt mit den hierzulande weit verbreiteten kindischen Vorstellungen über die Allmacht der intermittenten Erneuerbaren Energien auf
  • und verweist auf die physischen Grundlagen unserer “modernen Zivilisation” (oder soll man “Zivilisiertheit” sagen?)

Es hat aber auch erhebliche Unzulänglichkeiten,

  • weil es Mythen um die Verfügbarkeit von Ressourcen konzentrierter fossiler Energie spinnt und
  • weil das wohlfeile Geschnatter von UNO-Deklarationen für bare Münze genommen und zum Orientierungspunkt des praktischen politischen Handelns gemacht wird. Wie Bryce zweifellos bekannt ist, macht Elektrizität heute nur ein Viertel des Endenergieverbrauchs aus und ist deshalb kaum geeignet die evolutionäre Zwickmühle dieser Art zu beenden. Ja, es braucht Strom um Trinkwasser zu entsalzen, zu reinigen und in Haushalte zu pumpen;  aber auch nicht-elektrische Primärenergie um zu bohren & Leitungen zu verlegen und Rohstoff und industrielle Prozesswärme um Wasser- und Abwasserrohre überhaupt herzustellen.

Robert Bryce, A Question of Power: Electricity and the Wealth of Nations. 2020

Unabhängiger Journalist

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