EU: Gott strafe England, aber dalli

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Napoleons Kontinentalsperre, 1811, Fr. Empire blau, Satelliten hellblau

Brüssel und seine Verbündeten haben es eilig, die Austrittserklärung der Briten zu bekommen, weil sie UK öffentlichkeitswirksam bestrafen wollen – und das geht ohnedies nicht schneller als nach zwei Jahren. Die Züchtigung soll über den Entzug des Freihandels erfolgen -  etwas, das dem Züchtiger mehr Schmerzen bereitet als dem Gezüchtigten. Die Kommissare Glühbirnenverbot und Gurkenkrümmung wollen daheim reinen Tisch machen.

Wem bewusst ist, dass europäische Regierungen für die Vorbereitung jedes drittrangigen Meetings oder jeder Erklärung viele Tage, ja Wochen benötigen, dem muss die Eile, die Brüssel jetzt an den Tag legt, unnatürlich, geradezu verdächtig vorkommen.

Die Hast der EU ist unmöglich zu übersehen. Im Speziellen will man dort endlich die formelle Austrittsbenachrichtigung überreicht bekommen.

Die Eile zieht sich vom Wunsch des Lügenbarons, “zügig Verhandlungen zu führen” – bis hin zu wunschgeleiteten Überlegungen, ob man Äußerungen des britischen Premiers beim nächsten Gipfel nicht als formelle Austrittserklärung werten könnte, wie z.B. orf.at Juristen zitiert:

‘EU-Anwälte könnten dem Rat empfehlen, dass eine solche Bestätigung oder derartige Gespräche alleine genügen, um Artikel 50 auszulösen.’ Auch die Idee, das Referendum an sich als Mitteilung zu werten, wurde bereits geäußert.”

Das ist nun wirklich äußerst seltsam: Die Union, die sich gemäß der eigenen Ideologie als unumkehrbar betrachtet, kann es offenbar nicht erwarten, mit einem ihrer größten Mitglieder Austrittsverhandlungen zu führen.

Das erste, was einem dazu in den Sinn kommt, ist eine psychologische Erklärung, die manchen bekannt vorkommen mag, mit denen privat “schon einmal Schluss gemacht worden ist”: “Dann hau doch endlich ab !” Oder wie es der Tagesspiegel hier formuliert:

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Die wohl beste Erklärung ist aber “rationaler” als solch emotionelles Verhalten: Die Glühenden Europäer haben es eilig, ein Exempel an Brexit-Großbritannien zu statuieren, weil, erstens, Strafe sein muss und zweitens, weil diese die Moral im eigenen Lager hebt. Wie schon Mao Zedong gesagt haben soll: “Bestrafe einen, erziehe Hunderte.”

Nun verhindert der Vertrag von Lissabon, dass das, was Pädagogen empfehlen, in diesem Fall umgesetzt werden kann – dass nämlich die Sanktion unmittelbar nach dem Verstoß erfolgen soll.

Der oktroyierte Lissabon-Vertrag – und das ist einer seiner wenigen positiven Aspekte – sieht für den Fall des Falles ein fixes Prozedere für einen gemanagten Abgang vor, das etwa zwei Jahre in Anspruch nimmt.

Natürlich haben die Lissabon-Unterzeichner damals nicht erwartet, dass dieser Artikel je in Anspruch genommen würde, und deshalb ist er – für EU-Verhältnisse – auch so vage.

Aber es war notwendig, eine solche Klausel aufzunehmen, weil Verträge ohne Ausstiegsmöglichkeit Knebelverträge und sittenwidrig sind.

So einen Zustand hatten wir bereits über16 Jahre hinweg, nämlich vom Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht bis zum Beginn von Lissabon.

Damals konnte kein Mitgliedsstaat “regulär” austreten. Mitterand-Berater Jacques Attali sagt hier öffentlich, dass die Aufnahme einer solchen Klausel 1992 absichtlich nicht erfolgt ist. Die komplette Übersetzung der entscheidenden Bemerkung findet in meinem Blog hier, bei den Zitaten.

Wir haben einen Artikel, der den Austritt erlaubt, absichtlich vergessen (Lachen im Publikum). Das war nicht sehr demokratisch, aber es war eine Garantie dafür, die Dinge schwieriger zu machen, damit wir gezwungen waren voranzuschreiten.”

Seit Ende 2009 gibt es aber den Artikel 50 und deswegen haben die strengen Herren in Brüssel jetzt den Salat.

Den Salat, dass sie den Briten in den nächsten zwei Jahren nicht jenen Schmerz zufügen können, der als einziger groß genug wäre, die ihnen selbst zugefügte Schmach zu rächen und die Moral der eigenen Truppe zu stärken: das Abschneiden Englands vom europäischen Markt, ein modernes Gegenstück zu Napoleons Kontinentalsperre.

Wenn das nun aber nicht sofort passieren kann, soll es doch so bald wie möglich geschehen, nämlich zwei Jahre nach der Austrittserklärung. Das geht vergleichweise einfach, man muss nur ein paar Vorsichtsmaßnahmen beachten.

***

Dabei ist es nötig, die Austrittsverhandlungen inklusive der obligatorischen Zukunftsperspektive scheitern lassen, bzw. dafür zu sorgen, dass es keine Nachfolgelösung gibt, die den Briten freien Zugang zu den Märkten der Union erlaubt.

Dass Artikel 50 die Möglichkeit einer Verlängerung vorsieht, ist kein ernsthafter Verzögerungsgrund, weil die “Latte” dafür so hoch liegt, dass sie praktisch nicht überquert werden kann.

Alle 27 Mitgliedsstaaten müssten für die Verlängerung sein und das ist praktisch ausgeschlossen, überhaupt, wenn das gegen den (nicht öffentlich erklärten) Willen der Kommission erfolgt. Siehe den Vertragstext auf dejure.org:

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In diesem Fall passiert Folgendes – noch einmal Absatz 3 (eigene Hervorhebung)

Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

Kapiert ?

Dass die “Verträge auf den betroffenen Staat (…) keine Anwendung mehr finden”, bedeutet, dass die Briten völlig vor der Tür stehen würden – sie wären auch aus der regionalen Freihandelszone ( “Binnenmarkt”) draußen.

Eine solche Kontinentalsperre-neu kann gemäß dem eigenen, selbst gesetzten Recht aber erst zwei Jahre nach der formellen Mitteilung des Austritts erfolgen und deswegen hat es der Intrigantenstadl in Brüssel auch so eilig, endlich die Austrittsnote (= “in Absatz 2 genannte Mitteilung”) zu bekommen.

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Nun gibt es eine Klippe, die umschifft werden muss, soll dieser Plan gelingen.

Diese besteht darin, dass bei dem Vorhaben nicht mit offenen Karten gespielt werden kann. Die Kommission muss vermeiden, dass sie daran schuld bekommt, sollte es kein Freihandelsübereinkommen mit einem unabhängigen Großbritannien geben.

Das würde ihr vielleicht bei gar nicht so wenigen freihandelskritischen Europäern Punkte bringen, dafür würde/müsste sie sich die kontinentale Exportindustrie aber zum Feind machen. Business Europe müsste Juncker & Co. eigentlich den Arsch aufreißen, pardon.

Der Grund dafür ist, dass der Kontinent deutlich mehr nach Großbritannien exportiert als umgekehrt – und daher an einer Beendigung des Freihandels auch stärker leiden würde als Großbritannien. So haben die Deutschen im vergangenen Jahr um rund 60 Milliarden englische Pfund nach UK geliefert, aber nur um 31,2 Milliarden von dort eingeführt (nur Waren).

Das wiederum bedeutet, dass

  • Brüssel bei seiner Strafexpedition nicht offen zeigen darf, dass es selbst ein Freihandelsabkommen torpediert, und dass
  • die kontinentalen Medien Berichte unterlassen müssen, die auf so etwas hindeuten, sowie dass
  • die Interessensvertreter der europäischen Exportindustrie stillhalten bzw. allfällige Hinweise darauf geflissentlich übersehen müssen. Das ist nicht so absurd, wie es klingen mag, vor allem wenn die Exportbetriebe für ihre Verluste mit Steuergeld entschädigt werden. Dementsprechende Berechnungen zirkulieren seit wenigstens zwei Monaten.Wenn die Unternehmen akzeptieren (und in Rechnung stellen lassen), dass ein solches Szenario auch einen geringeren Konkurrenzdruck daheim bedeutet, muss das nicht mehr als einen niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag kosten.

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Ein Paar Schuhe wird erst draus, wenn man die Flurbereinigung berücksichtigt, die die Zentralisten nach innen vorhaben. Die Brexit-Krise soll dazu genutzt werden, den noch verbleibenden Spielraum nationaler Regierungen, vor allem aber der Parlamente zu vernichten.

Doch das ist ein Thema für einen anderen Eintrag.

Vorerst nur so viel: Durchführen will man das über den Euro. Die FAZ von heute gibt einen Vorgeschmack drauf:

Angesichts des bevorstehenden Brexit solle die EU-Kommission der bisherigen „EU mit multiplen Währungen“ ein Ende bereiten, hieß es in Junckers Umgebung. Außerdem solle die Währungsunion ‘enger zusammenwachsen’.”

Mal sehen, ob sich die Völker das bieten lassen. Die Möpse werden vor Freude darüber sicher laut kläffen.

Bild: User Noray, Wikimedia Commons, CC SA 3.0.

Unabhängiger Journalist

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