EU-Konflikt mit Russland: Eine selektive Gedächtnisschwäche

Am Sonntag hatte das neue Diskussionsformat des ORF mit dem Namen “Focus Europa” Premiere. Die Debatte kam aus dem Landesstudio St. Pölten, weshalb auch der renommierte Außenpolitik-Experte Erwin Pröll teilnahm. Das Panel war auch sonst recht prominent besetzt, unter anderem mit dem bulgarischen  Staatspräsidenten Rossen Plewneliew und dem tschechischen Ex-Außenminister Karel Schwarzenberg, der sich einmal bescheiden als “Gastwirt” bezeichnet hat. Eigentlich war er ja Hotelier und seine Absteige das Palais Schwarzenberg in Wien gewesen.

Wie zu erwarten war die “aggressive Außenpolitik” Russlands das Hauptthema – also die Ukraine im allgemeinen und die Krim im speziellen.

Plewneliew meinte, dass es bei der Krim erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur eine Grenzänderung, sondern auch eine illegale Abstimmung und Okkupation gegeben habe und dass das bedeute, dass sich “die russische Führung heute nicht mehr an internationales Recht hält”.

Das mit dem internationalen Recht ist so eine Sache, über die sich trefflich streiten lässt und es gibt böse Zungen, die behaupten, dass sich alle möglichen Akteure über internationales Recht hinwegsetzen, wenn sie glauben, das ungestraft tun zu können. Je nach Perspektive finden sich dann Argumente, warum man das internationale Recht doch auf seiner Seite hat. Im konkreten russischen Fall z.B. das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der UN-Charta.

Bemerkenswert war, dass das historische Gedächtnis der Diskutanten bereits so weit eingetrübt war, dass unwidersprochen behauptet werden konnte, europäische Grenzänderungen und “illegale” Abstimmungen seien etwas Neues, seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr Gesehenes. Wie vielleicht erinnerlich, haben Slowenien und Kroatien 1991 nach Abstimmungen ihre Trennung von der Bundesrepublik Jugoslawien vollzogen, 1995 wurde im Dayton-Abkommen Bosnien-Herzegowina geschaffen (keine Abbstimmung) und ab 1999 entstand unter der Schirmherrschaft der NATO Kosovo als de facto unabhängiger Staat.

Dagegen ist auch nichts einzuwenden – solange die Bevölkerung wirklich frei über ihr eigenes Schicksal entscheiden und das Votum verlässlich ausgezählt werden kann.

Das galt für Slowenien und Kroatien und das gilt hoffentlich auch für die Katalanen, die Basken, die Schotten, die Venezianer, die Südtiroler und die Flamen. Warum sollte es für die Krimbewohner nicht auch gelten? Weil sie sich dem benachbarten großen Bruder anschließen wollten ? Offensichtlich haben bei hoher Wahlbeteiligung auch Tataren und Ukrainer überwiegend für den “Anschluss” an Russland gestimmt – ohne dass es größere Wahlfälschungen gegeben hätte. Das einzige wirklich erkennbare Problem bei der Krimabstimmung war, dass es keine dritte Option zur Auswahl gab, den Verbleib bei der Ukraine in der bisherigen Form. Aber das ist angesichts des Ergebnisses wohl nur ein optischer Mangel.

Das zu beobachten ist alles recht interessant – vor allem wie sich aus den beiden russischen Völkerkerkern (Zarenreich, Sowjetunion) ein (weitgehend) sprachlich-ethnisch homogenes Russland entwickelt hat, während “der Westen” den umgekehrten Weg einschlägt.

Interessant auch, dass Pröll meinte, dass “wir die 1914-Diskussion intensiv nutzen (müssen), Geschichte wieder wachzurufen”. Gemeint hat er natürlich Propaganda und Geschichtspolitik zur Rechtfertigung der eigenen aktuellen Interessensposition.

Aber er hat im Prinzip Recht. Wer den chauvinistischen Fallstricken entkommen kann, der kann tatsächlich Lehren aus der Geschichte ziehen – zum Beispiel bei einem Vergleich der Rolle Russlands am Vorabend des 1. Weltkriegs und im Ukraine-Konflikt heute.

Russland gehörte 1914 zum innersten Kern jener Staaten, die das Völkermorden auslösten – zusammen mit bzw. unmittelbar nach Serbien und Österreich-Ungarn. Die russische Beistandsgarantie an Serbien hat die Europäisierung eines regionalen Konflikts erst ermöglicht – ebenso wie der berühmte deutsche “Blankoscheck” für Wien. Hintergrund für das russische Agieren war die Großmachtrivalität mit Österreich-Ungarn um die Dominanz auf dem Balken. Heute steht Russland im europäischen Konzert alleine da und der Machtkampf spielt sich unmittelbar vor seiner Haustüre ab. Wer führt da eigentlich eine aggressive Außenpolitik?

Hinweis: Die Einschätzung des Jahres 1914 beruht v.a. auf Christopher Clark, Sleepwalkers, 2013 und Sean McMeekin, July 1914, 2013

 

Unabhängiger Journalist

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