Der Ex-Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat eine Autobiografie mit einer (zusammenfassenden) Vivisektion des Euro vorgenommen, dass dem Leser die sprichwörtliche Spucke weg bleibt. Sinn ist nicht nur sachkundig, er ist intellektuell grundlegend ehrlich. Und ein bisserl eitel und ziemlich naiv, weil ihm nicht bewusst ist, mit wem er sich 2011 angelegt hat: mit dem eisernen Dreieck Frankfurt – Berlin und Stuttgart (um eine Stadt zum Symbol deutscher Exporteursinteressen zu machen). Er meint, dass er in Ruhe und hoch geehrt sein Leben ausklingen lassen könne.
“Das zeigt, dass die Länder der Eurozone, die glaubten, eine gemeinsame Zentralbank zur Geldversorgung zu schaffen, in Wahrheit eine mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestattete und demokratisch nicht mehr kontrollierte Abwicklungs- und Umschuldungsbehörde für die finanziell angeschlagenen Länder Europas geschaffen haben – zum Nutzen eben dieser ökonomisch schwachen Länder selbst, zum Nutzen ihrer Gläubiger in der ganzen Welt und zulasten vor allem Deutschlands.”
Sinn agiert insofern naiv, als er mit seiner Reputation, Expertise und der beindruckenden kognitiven Statur zum Störfaktor in einem Billionen-Geschäft geworden ist, den man nicht einfach ignorieren kann – und das ist längerfristig schädlich für die Gesundheit.
Was beinhaltet nun der vor drei Monaten erschienene autobiografische Wälzer des heute Siebzigjährigen?
Den Lebensweg eines Westfalen aus SPD-nahem Elternhaus und wie er aus Liebe zur wissenschaftlichen Methode “zum Marktwirtschaftler” und “Neoliberalen” geworden ist – was ihm übrigens auch den Weg an die Spitze des Münchener ifo-Instituts und in die Crème de la Crème der deutschen Ökonomen geebnet hat.
Ironischerweise liegt in dieser scheinbaren Rechtswendung der Keim seines heutigen Häretikertums und auch, was ihn für bestimmte deutsche “Wirtschaftsinteressen” so gefährlich macht.
Sinn-Groupies mögen auch die restlichen 600 Seiten lesen, diesen Blogger interessiert hier nur das Kapitel 13, das “Wo bleibt mein Europa?” übertitelt ist.
Die Gemeinschaftswährung des Hans-Werner Sinn
Der Text ist eine Grätsche zwischen Sinns tiefen Wünschen nach europäischer Brüderlichkeit und wirtschaftlicher Gerechtigkeit und seinen beinharten Einsichten in die Natur des aktuellen europäischen “Einigungswerks”, dessen Herz die raffinierte, nur für wenige voll erkennbare Beraubung deutscher Steuerzahler und Verbraucher ist.
Wer jemals meinte, die EU-Währung wäre schon immer ein “Projekt der Deutschen” gewesen, sei eingeladen, Sinns Analyse vom “Hauptproblem Euro” und seine Erzählungen von den Target-Salden und den monetären Lockerungsübungen der EZB zu lesen – Texte, die schlechte Nachrichten für die Mehrheit der Deutschen und gute für die Verkäufer deutscher Maschinen, Firmen und Immobilien beinhalten.
Die story von den deutschen Interessen hat paradoxerweise einen wahren Kern, ist gleichzeitig aber überwiegend falsch/irreführend.
Die Aufforderung, ein paar Dutzend Seiten in Sinns Selbstbiographie zu lesen, ist auch keine Zumutung, weil die Alternative dazu mindestens die Lektüre des 2014 erschienen Buchs The Euro Trap und des 2016 erschienenen Schwarzen Juni wäre.
Die 2018 publizierten Wahrheitssucher-Passagen sind nicht nur aktueller, sondern allgemein das “kleinere Übel”, weil deutlich kürzer und für Laien besser verständlich.
Sinns Erzählung der Geschehnisse beginnt mit der Vorgeschichte der kreditgetriebenen ersten Euro-Blase in den Südstaaten der EU, die mittlerweile fast jeder Bild-Leser kennt.
Man kann für die Zeit vor 2007/08 nur spekulieren bzw. Indizien sammeln, inwieweit und wie die EZB ihre Finger auch in dieser bubble hatte – aber das wird sich wohl nie hieb- und stichfest klären lassen.
Akzeptieren wir der Einfachheit halber die zum Allgemeingut gewordene Erzählung, es seien “die Märkte” gewesen, die dem Angebot nicht widerstehen konnten, risikolos gewordene Südstaaten-Bonds zu kaufen und damit die erste Blase aufzupumpen.
Bubble II: Die Stabilisierungs-Blase
Spannender und in mancher Hinsicht noch immer kontroverser ist die Entwicklung nach der Krise von 2008. Das ist auch die Analyse, für die Sinn sozusagen das intellektuelle Recht der Ersten Nacht beanspruchen kann.
Sinn analysierte seit 2011 die Tiefenstrukturen für diese “Euro-Krise” genannte Phase und die recherchierten Strukturen bestehen in arkanen, der Öffentlichkeit weitestgehend unbekannten und unverständlichen Mechanismen, sie selbst einem Sinn Hunderte Fachgespräche und jahrelange “Detektivarbeit” abverlangt haben sollen.
Nach Darstellung von HWS hat es dabei keinen deep throat etwa aus der Bundesbank gegeben.
Wie immer der gute Mann auch auf die Target 2-Salden gestoßen sein mag – seine Interpretation, dass es sich um eine De facto-Kreditgewährung der Buba für die “Südperipherie” bzw. für Kompradoren deutscher Sachwerte handelt, ist in Fachkreisen heute weitgehend unumstritten.
Üblicherweise wird dazu mehr oder weniger bedauernd mit den Achseln gezuckt und gesagt: “That’s part of the deal.”
Natürlich handelt es sich bei den Target-Überweisungen um keinen “echten Kredit” (verstanden womöglich wie ein Privatkredit) mit Vertrag, ausgeliehener Summe und pipapo, wie Trolle der EZB das bis zum heutigen Tag verballhornen.
Es handelt sich, wie Sinn übersetzt, um eine vom Eurosystem ausgestellte “goldene Kreditkarte” für die GIPSIZ-Länder, für die sich mittlerweile Drohverluste von fast 1.000 Milliarden Euro aufgebaut haben (für die deutsche Volkswirtschaft).
Die Target 2-Salden
Auf diese enorme Summe belaufen sich mittlerweile die Nettoforderungen der BuBa gegen das Eurosystem – siehe hier – und selbst das ist wohl nur ein Bruchteil der bitteren Wahrheit.
Denn es handelt sich bei Target um Salden von Zentralbankgeld, die stellvertretend für ein Vielfaches von Kreditgeld stehen, fiat money, mit dem systematisch
- südliche Staatsbonds zurück- und
- deutsches (niederländisches) Sachvermögen aufgekauft wird.
Das alles hat schwindelerregende Dimensionen und weitreichende geldtheoretische Implikationen, denen Sinn womöglich selbst nicht folgen möchte.
Im Zentrum des geschilderten Vermögenstransfers steht eine asymmetrische Kreditgeldschöpfung durch südliche (Noten)Banken, die von der/um die EZB auf allerlei Weise ermöglicht wird – absolut legal, aber nur ganz wenigen bekannt.
Diese Geldschöpfung kann in Form lange institutionalisierter Programme erfolgen, die die Notenbanken zu Aufkäufen “ihrer Staatsbonds” ermächtigen (“ANFA”) oder mittels “großer Geldpolitik”;
etwa dem sogenannten quantitative easing der EZB, das zu einer Flut von 1.800 Milliarden Euro Zentralbankgeld (sic) führt, das über die Banken noch einmal gehebelt werden kann.
Inflationistische “große Geldpolitik” wurde laut Sinn möglich, weil der Club Med über eine einfache Mehrheit im EZB-Rat verfügt – wo dieser aber zumindest eine Sperrminorität gegen das Ende des Gelddruckens mobilisieren kann.
Mit der enormen Geldschwemme können über die ganze Welt verstreute Staatsanleihen südlicher EU-Staaten zurückgekauft werden, was dazu führt, dass diese Staatsschulden “gutartiger” werden und in den Bilanzen der nationalen Notenbanken “zur Ruhe gebettet werden” können.
Das führt oft zu Überweisungen, die im Target-Saldo der Buba als Forderung auftauchen, deren Empfänger freilich gar keine Italiener etc. sind.
Sondern Investoren z.B. aus Hongkong, die die Erlöse losgeschlagener Papiere z.B. für den Kauf eines deutschen Maschinenbauers verwenden.
Die Bundesbank hat im Rahmen des Eurosystems gar keine andere Wahl als diese Überweisung zu kreditieren, wobei sie eine Buchforderung gegen eben dieses System aufbaut.
Eine Forderung, für die sie (heute) nicht nur keine Zinsen erhält, sondern für die sie auch keine Pfänder bekommt.
***
Am Anfang der Geschichte stand die Finanzierung deutscher Exporte im Mittelpunkt, aber das
- ist – wie sich erwiesen hat – nur eine Melk-Funktion, die sich
- nicht mit den internationalen Käufen von deutschen hard assets über “südliches Kreditgeld” schlägt.
In der ersten Phase stand scheinbar die Finanzierung der Ausfuhr deutscher Autos, Maschinen usw. im Vordergrund, wie die folgenden beiden Grafiken nahelegen.
Man sieht, wie sich bis 2008/2011 zeitversetzt nach den Leistungsbilanzen die Target-Forderungen der Buba auftürmen und wie diese danach zurückgeführt werden, wieder parallel zu (nach) den (“bilateralen”) Leistungsbilanzen.
Das war politisch ins Werk gesetzt.
Man hat in einer Periode hoher Aufmerksamkeit – etwa zwischen 2012 und 2014 – in den Südstaaten die negativen Leistungsbilanzen verkleinert – was dazu führte, dass auch die deutschen Targetforderungen stark zurückgingen (zunächst).
Hier die beiden fraglichen Charts der Querschüsse, die von hier und hier übernommen wurden. Zuerst die bereits bekannte jüngste Targetkurve der BuBa:
Das Low der Targetforderungen der Buba wurde 2014 erreicht, zeitgleich mit dem Low des negativen Leistungsbilanzsaldos Deutschlands (es scheint, als hätte aus irgendwelchen Gründen die “Korrektur”der deutsch-südlichen Leistungsbilanzen bereits vor dem peak der Targetforderungen begonnen).
Ab 2014 ging’s wieder steil nach oben, eben bis zu den 956 Milliarden von Mai 2018.
Das fällt zeitlich mit dem steilen Anstieg des “Gelddruckens” durch z.B. die italienische Zentralbank bzw. – ebenfalls wieder zeitversetzt – mit dem QE-Programm der EZB des Italieners Mario Draghi und des vom Club Med kontrollierten EZB-Rat zusammen.
Literatur:
Hans-Werner Sinn, The Euro Trap. On bursting Bubbles, Budgets and Beliefs. 2014
Hans-Werner Sinn, Der Schwarze Juni: Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt. 2016
Hans-Werner Sinn, Auf der Suche nach der Wahrheit: Autobiografie. 2018
Grafiken: Querschüsse, mit freundlicher Gehnehmigung
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