Geistesgrößen aus Reformation & Renaissance sind faktenwidrig zu Helden des wissenschaftlichen Positivismus erklärt worden. Heutige Mythenstürmer wiederum schlagen sie vormodernen Zauberern zu. Tatsächlich waren sie Kinder ihrer Zeit, schreibt der englische Historiker Derek Wilson; Bewohner einer ebenso religionsdurchtränkten wie magischen Welt, die sich oft in der wissenschaftlichen Methode geübt haben,
“Our civilisation evolved and our response to our environment was just one part of that process. Pioneer thinkers accumulated a growing body of scientia. But that was far from being the only gain made during these centuries. Philosophy, art, poetry and music helped to satisfy people’s emotional needs and religion was the pack horse on whose broad back they – and scientific enquiry – were carried. Although they were not always in accord, science and superstition travelled together during the centuries between the fall of Rome and the Renaissance. They continued to do so for a long while afterwards.”
Nichts Neues unter der Sonne also.
Zumindest nicht zu Beginn, nachdem Schriftgelehrte sich der Regulierung durch eine korrupte Orthodoxie entzogen und
Teile des Fußvolks dieser die Gefolgschaft aufgekündigt hatten (und dabei von weltlich Mächtigen unterstützt wurden);
Doch von Martin Luther bis Isaac Newton lebten sieben Generationen und was 1500 für die Wahrheit ausgegeben wurde, stellte sich anno 1700 vielleicht völlig anders dar.
Am Anfang gab es neuen Wein jedenfalls noch in den alten, mittelalterlichen Schläuchen (die freilich nie so vorsintflutlich waren, wie sie von interessierter Seite gezeichnet worden sind).
Agrippa von Nettesheim, ein Humanist, wollte “zusammenhalten, was er wusste, fühlte und glaubte”.
Er verfasste am Vorabend der Reformation De Occulta Philosophia, einen Text mit dem er in die nicht-christlichen Welten des Neuplatonismus, der Kabbala und der Spekulationen des Hermes Trismegistos eintauchte, in die weiße und schwarze Magie.
Das war ein lebensgefährliches Unterfangen (Agrippa widerrief vorsorglich), doch seine Unterscheidung von guter (legitimer) und böser Zauberei blieb lange hängen. Sein Wissensdurst war jener des Dr. Faustus, über den Legenden aus dem Boden zu schießen begannen wie Pilze nach einem Sommerregen.
Für den gemeinen Mann – und wohl auch für Teile der bedrohten Kirchenhierarchie – war Faustus das tragische Beispiel des irregeleiteten Intellektuellen, der dem Teufel seine Seele verschrieb;
Mephistopheles, den er nicht als real anerkennen wollte, obwohl dieser doch leibhaftig vor ihm stand.
Magie & Wahrsagerei, waren alle überzeugt, war wirksam und auch (und gerade) Hochgestellte bedienten sich ihrer,
beispielsweise die jungfräuliche Tudor-Königin Elisabeth I, die sich von Hofmagier John Dee Horoskope legen und über den besten Zeitpunkt staatspolitischer Handlungen beraten ließ.
Das schloss nicht aus, dass auch mächtige Zauberer in Ungnade fallen konnten und auch nicht, dass der Mob gegen sie und ihr Eigentum vorging wie es Dee erging, als er sich aus England absetzen musste.
Dee’s final years were unhappy. Though he was sometimes employed as an expert witness in witchcraft trials, he was largely neglected and reduced to near penury. He had become yesterday’s man.”
Mathematik, Astrologie & Astronomie
Eigentlich war dieser Universalgelehrte und “Showman” ja Mathematiker. Er liebte Zahlen und Rechenoperationen und das war für die überall verbreitete judicial astrology auch unabdingbare Voraussetzung.
Aber auch für deren siamesischen Zwilling, die Astronomie, die damals von der Astrologie noch nicht getrennt war.
Mathematik nicht zu knapp benötigte auch der deutsch-polnische Kirchenangestellte Nikolaus Kopernikus, der über Jahrzehnte am geozentrischen Weltbild des Ptolemäus herumtüftelte und errechnete, dass sich die Erde um die Sonne drehen musste.
Kopernikus war aber kein “Showman”. Er wollte seine Ruhe haben und so veröffentlichte er De Revolutionibus Orbium Coelestium erst kurz vor seinem Tod (eine Vorsichtsmaßnahme, die – wie Wilson mutmaßt – wohl überflüssig war).
Die Theorie widersprach nicht nur der Alltagserfahrung, sondern (scheinbar) auch der Heiligen Schrift und so nimmt es nicht wunder, dass auch Martin Luther not amused war.
De Revolutionibus wurde in Gelehrtenzirkeln diskutiert, aber noch war die Zeit dieser Theorie nicht gekommen.
Es sollte noch gut 100 Jahre dauern bis sie allgemein akzeptiert wurde.
An ihr arbeitete sich der flamboyante dänische Adelige Tycho Brahe ab, der noch glaubte, sie irgendwie mit der traditionellen Perspektive verbinden zu können.
Sein Assistent und Nachfolger Johannes Kepler, ebenfalls ein Lutheraner, war sich schon sehr sicher, dass dieser Versuch nicht gelingen könne – aber auch, dass Kopernikus der Modifizierung bedurfte – elliptischer statt runder Planetenbahnen.
Kepler wiederum korrespondierte mit Galileo Galilei, mit dem er in Sachen heliozentrisches Weltbild eines Sinnes war, mit dem er aber um die Meeresgezeiten stritt.
Galileo, ein selbstherrliches, aber nicht besonders lebenstüchtiges Genie, konnte schließlich mit einer brandneuen Telekosp-Technologie beobachten, was Ptolemäus-Skeptiker längst errechnet hatten oder nur mit bloßem Auge beobachten hatten können.
Aber weil er ungeduldig war und wenig Menschenkenntnis besaß, glaubte er, seine Erkenntnis “mit der Brechstange” durchsetzen und den ebenfalls aus Florenz stammenden Papst Urban VIII, einen früheren Freund, desavouieren zu können (erläutert Wilson; nach dessen Darstellung wären wesentliche Kräfte in der Spitze der Kirche für eine gesichtswahrende Lösung zu haben gewesen).
So kam Galilei, der schon zu Lebzeiten ein Promi war, 1633 zu seiner Verurteilung durch die Inquisition, für die er heute noch bekannt ist.
Morgenstern oder Abendsonne?
Isaac Newton, der 50 Jahre danach in England lebte, war auch ein geniales Alpha-Tier mit Hang zur Zanksucht, aber er war
- finanziell unabhängig,
- Parteigänger des in England siegreichen Protestantismus und
- auch sonst nicht von dynastisch-politischen Wechselfällen bedroht (wie viele seiner Vorgänger).
Am Ende seines Lebens, unter dem Regime des Wilhelm von Oranien, wurde er sogar Chef der königlichen Münze.
Die überlebensgroße Figur des Mannes aus Lincolnshire bildet gewissermaßen den Abschluss der populärwissenschaftlichen Erzählung Wilsons, der die rhetorische Frage stellt:
Morgenstern der Aufklärung oder Abendsonne des Aberglaubens?”
Ja, auch Newton hat mehr oder minder im Geheimen alchemistische Forschungen betrieben – aber war er deswegen eher Okkultist und Magier denn Vater der neuzeitlichen Physik?
Derek K. Wilson, A Magical World Superstition and Science from theRenaissance to the Enlightenment. 2018
Jason Ā. Josephson-Storm, The Myth of Disenchantment. Magic, Modernity, amd the Birth of the Human Sciences. 2017
Bild:Ashmolean Museum, Jean-Paul Laurens [Public domain] via Wikimedia Commons
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