Internet und Social Media haben die klassischen Medien untergraben und den Profi-Journalismus entzaubert – ein Vorgang wie im 16. Jahrhundert, als das Mittelalter dem Zangenangriff von Buchdruck und Reformation erlag. Auch unsere Redakteure verstehen die Welt nicht mehr. Statt von Ketzerei und theologischem Unverständnis sehen sie sich von Dummheit und Irrationalität umzingelt. Sich selbst halten sie für eine Bastion der Aufklärung.
Ein an diesem Wochenende im FAZ-Feuilleton erschienener Essay gibt dem in diesem Berufsstand weit verbreiteten Gefühl Ausdruck.
Wie ihre Vorgänger, der (publizierende) Klerus einer versteinerten Amtskirche, hat(te) die Journaille eine Mittlerrolle zwischen Hierarchie und Volk inne. Diese kann sie nutzen, um die Welt “richtig zu deuten” und ihre Schäfchen von gefährlichen Irrlehren abzuhalten. Noch.
Wie die Antireformations-Pfaffen Buchdruck und Bibel-Übersetzung in die Landessprachen bejammerten, beklagen die Verteidiger der alten Medienordnung, dass neue Technologie und ein unmittelbarer, unvermittelter Zugang zur “Schrift” falsche Glaubensinhalte fördern und perpetuieren.
Der größte Unterschied zu damals liegt wohl darin, dass der moderne Bezugspunkt nicht das wahre Wort Gottes, sondern eine selbstdefinierte Rationalität ist.
In der aktuellen journalistischen Praxis besteht die Rationalität unserer anciens écrivains darin, von der Obrigkeit forcierte oder wenigstens zugelassene Wissensformen und Meme zu verwenden.
Eine historische Analogie
Was einst die Häretiker waren, sind nun die Verschwörungstheoretiker und statt theologischer Unbildung ist heute Dummheit am Werk.
Schon vor Jahren beschrieb der Chefredakteur von Dailybell, Anthony Wile, die Gegenwart in Analogie zum Zeitalter der Reformation (eigene Hervorhebungen):
This concept is based on what happened during the era of the Gutenberg press. Almost from the beginning, the Gutenberg press was a revolutionary technology. As soon as people used the press to print Bibles, readers began to discover that the Holy Word differed considerably from what they’d been taught by the Catholic Church. (…)
But printing Bibles in moveable type changed the power relationship entirely. Now, anyone could own a Bible and they were easily reproduced and increasingly inexpensive. Almost immediately, then Bibles began to be translated into “vulgate” and eventually the King James Version (English) would become a dominant variant. But in the meantime, the damage was done. First came the Renaissance and then the Reformation and finally the Age of Enlightenment, three powerful rolling waves of free-thinking that transformed the face of human society, first in the West and then around the world.
Heute ist das Publikum nicht mehr auf die Neuigkeiten des Mainstreams angewiesen – und noch weniger auf die lauwarmen Predigten seines Kommentariats. Diese sind schon lange nicht mehr von Interesse.
Doch der Prozess hat erst begonnen. Wie damals berufen sich die Reformatoren und ihre Gegner auf dieselben Werte, nämlich “Aufklärung und Fortschritt”; Zankapfel ist, wer diese wirklich für sich beanspruchen kann (was wohl von Fall zu Fall verschieden ist. Die üblicherweise verschämte Mainstream-Unterstellung, dass die Gegenseite, “das Netz”, ein Tummelplatz für nicht argumentationsfähige Dunkelmänner wäre, ist jedenfalls ein rhetorischer Kniff bzw. ein unhaltbares Pauschalurteil.)
Nicht beabsichtigter Paradigmenwechsel
Dass sich beide Seiten auf dasselbe, aus dem 18. Jahrhundert stammende Paradigma beziehen, muss nicht Bestand haben.
Die Leitbegriffe und Interpretationsmuster eines oder beider Diskursanten können sich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte ändern. Sie können die Entwicklung in eine gänzlich unvorhergesehene Richtung lenken. Das ist die zentrale Erkenntnis eines 2012 erschienenen Buchs mit dem Titel: “Die nicht beabsichtigte Reformation. Wie eine religiöse Revolution die Gesellschaft säkularisiert hat.”
Der Autor, Brad Gregory, zeigt, wie radikal sich in den folgenden Jahrhunderten die 100% christliche Textur des ursprünglichen Streits geändert hat.
Aus der Suche nach dem wahren Wort Gottes wurde jene nach der wissenschaftlichen Erkenntnis, die heute als einzige Quelle der Wahrheit akzeptiert wird (wenigstens in der Öffentlichkeit). Statt der einzigen göttlichen Wahrheit gibt es nun die Hyperpluralität der Moderne und Postmoderne; und die über den christlichen Glauben legitimierte Ethik hat einer Schwester Platz gemacht, die ihr ähnlich sieht, die aber eine andere ist und die auch andere Erzeuger hat.
(Sollte sich das gemeinsame Paradigma der Medien und ihrer Kritiker ändern, muss das übrigens nicht heißen, dass dann zu einem alten - oder neuen – Offenbarungsglauben Zuflucht genommen wird. Es kann hier sehr wohl ein Drittes geben und dieses kann auch Rationalität und Wissenschaftlichkeit sein – wenn auch nicht in seiner heutigen historischen Ausprägung.)
Fehlleistungen und Schnitzer
Heute sieht es jedenfalls nicht so aus, als ob das, was gemeinhin “Lügenpresse” genannt wird, bereit ist, die gegen sie erhobenen Vorwürfe selbstkritisch zu untersuchen. Der nur halb lustig gemeinte Gegenvorschlag des Mainstreams lautet: Dann glaubt doch einfach den Kritikern nicht!
Das Maximum, das heute von dieser Seite erwartet werden darf, ist die Aussage, dass Online sowie ggf. der um sich greifende funktionale Analphabetismus das Gewerbe in eine Krise gestürzt hat.
Das ist aber nur eine Teilwahrheit.
Der gravierendere (und schwerer zuzugebende) Teil besteht darin, dass die Medien die ihnen zugedachte demokratiepolitische Funktion nicht erfüllen bzw. die ihnen daraus erwachsenden Verpflichtungen vernachlässigt haben.
So etwas zuzugeben ist für aktive Journalisten unendlich schwer; vielleicht vergleichbar mit dem Eingeständnis eines papsttreuen Publizisten des 16. Jahrhunderts, eigentlich nur die Interessen einer weltlichen Obrigkeit verteidigt zu haben.
Unsere heutigen Journalisten sind weder willens noch in der Lage, die massiven handwerklichen Schnitzer, Fehlleistungen und Unzulänglichkeiten zuzugeben, die in den vergangenen Monaten in der Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt, aber auch in ihrer Coverage der PEGIDA-Demonstrationen vorgekommen sind.
Sie haben auch keine Lust, ihre Irrtümer und Fehlgriffe in den vergangenen Jahren (und Jahrzehnten!) in Sachen europäische Einigung/begleitende Kontrolle der Regierenden einzugestehen. Der in Staatsstreich in Zeitlupe geschilderte Piratenakt der hiesigen politischen Klasse wäre ohne die tätige Mithilfe der Medien nicht möglich gewesen.
Dieser Satz fußt nicht auf einer abstrakten, nicht konkretisierbaren Behauptung, sondern auf greifbaren, dokumentierten und weiter dokumentierbaren Fällen. In besonderen Fällen scheint es sich auch nicht um zweifelhafte Urteile gehandelt zu haben, sondern um eine publizistische Beihilfe zu strafrechtlich relevanten Hochverrats-Handlungen gegen den eigenen Staat und dessen Staatsform – das werden ordentliche Gerichte zu klären haben.
Aber auch die bisher zusammengetragenen, öffentlich zugänglichen Fakten werden von der Branche geflissentlich übersehen, vergessen, verdrängt, kleingeredet, wegerklärt, abgestritten oder zum nicht repräsentativen Einzelfall “degradiert”.
Es besteht nicht einmal der Ansatz von Zerknirschung, die Voraussetzung für einen Versuch wäre, reinen Tisch zu machen. Auch das Vorstadium, die Bereitschaft zur Gewissenserforschung, ist noch nicht erreicht.
Suche nach einem Sündenregister
Diese Verstocktheit wird durch den Umstand begünstigt, dass die von den traditionellen Medien begangenen Verstöße zwar alle in dieselbe Oberkategorie fallen, aber sehr unterschiedlich sind. Die Verfehlungen sind so bunt und divers wie das Sündenregister der katholischen Kirche. Obendrein wurde die überwiegende Mehrzahl der Fälle nach bestem Wissen und Gewissen begangen.
Weil das alles keine (erkennbar) “ontologische Dimension” hat, ist es ausschließlich Sache der Diesseitigen, der Bürger in ihrer Polis, sich Gewissheit über die mediale Arbeit und deren Unzulänglichkeiten zu verschaffen. Es reicht nicht aus, keine Zeitung mehr zu kaufen/lesen oder keine Gebühren für den ÖR (öffentlich-rechtlichen Rundfunk) zu zahlen.
Diese Art von Vergewisserung passiert derzeit auch schon in beträchtlichem Umfang. “Das Internet” im allgemeinen und Blogs im speziellen – hier ein “linker” und hier ein “rechter” – sind wie große Steinbrüche, in denen das Rohmaterial für das “säkuläre Sündenregister” unserer traditionellen Medien herausgebrochen wird.
Unter denen, die in diesen Steinbrüchen arbeiten, besteht aktuell ein nur geringes gemeinsames Verständnis darüber, welche Berichte bzw. welche Art von Verhalten “besonders störend sind”. Thematisierungen und Anlässe der medienkritischen Blogger sind oft ziemlich konträr. Über die PEGIDA-Demonstrationen und “den Islam” werden sich “linke” und das “rechte” Medienkritiker wohl nie einig werden.
Würden die linken Kritiker von einer guten Fee z.B. an die Stelle eines ÖR-Journalisten versetzt werden, würden sie die angestammten Redakteure in Sachen political correctness und selektiver Berichterstattung bei Ausländerkriminalität schnell in den Schatten stellen.
Bekämen dagegen Rechte die Gelegenheit, eine ÖR-Dokumentation über Sozialmissbrauch durch Zuwanderer-Familien zu gestalten, würden die Beschwerdestellen von ARD, ORF & Co. von Protesten überflutet werden. Von Protesten, die von ihren heutigen “linken” Medienkritiker-Kollegen verfasst würden.
Beide Seiten werfen den heutigen Medien vor, ihren demokratiepolitischen Grundauftrag nicht zu erfüllen und ihre Leser/Seher/Hörer zu verraten. Aber niemand von ihnen ist Gott oder die Weltgeschichte. Niemand kann für sich beanspruchen, Schiedsrichter zu sein oder das letzte Wort zu haben.
Beide Seiten haben Fälle von wirklichen oder angeblichen Verstößen gegen journalistische Berufspflichten zusammengetragen, die es großteils verdienen, systematisch gesammelt zu werden. Welche Fälle einen Verstoß gegen genuine Medienaufgaben zeigen und welche nur dem ideologischen Mandat einer bestimmten Gruppe zuwiderlaufen, kann erst nachträglich und muss im Einzelfall geklärt werden.
Bis dahin wäre es wichtig, eine Art Sündenregister, eine Dokumentation zu haben, in der beispielhaft publizistische Fehlleistungen gesammelt sind. Nicht um einen Berufsstand zu kriminalisieren, der in einer freien Gesellschaft nicht kriminalisiert werden sollte, sondern um jene Fakten zu sichern, die von den Tätern und ihren Kollegen großzügig übersehen, vergessen, verdrängt, abgestritten oder zum nicht repräsentativen Einzelfall erklärt werden – siehe oben.
Erst die Zusammenschau wird die Mehrheit davon überzeugen können, was die unruhige, aktive Minderheit heute schon weiß.
Foto: Wikimedia Commons/Public Domain
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.