Kindesweglegung oder die Suche nach neuer Identität – Kapitel 2, 3

 

Wo ist das Baby?
Wo ist das Baby?

Die Kapitel 2 und 3 widmen sich der Geschichte der “kleinen” österreichischen Selbstständigkeit bzw. dem kleinösterreichischen Patriotismus. Dessen Schicksal unterscheidet sich von jenem seiner älteren, oft missratenen Brüder in den großen Ländern des Kontinents. Auf jeden Fall ist er viel jünger als diese – sozusagen ein Nachzügler der Familie.

Seine Entstehung fällt eindeutig in eine demokratische Epoche, in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war die Folge der Enstehung eines neuen Puffer-Staats zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs. Seine politischen Eltern – und Paten – waren SPÖ und ÖVP, die sich in diesen Jahren große Verdienste um die Republik erwarben. In dieser Zeit wählten 90 Prozent rot oder schwarz.

Viele fühlten sich sich nach 1945 noch als Deutsche, aber Nationalsozialismus und Weltkrieg hatte den meisten die Lust am Deutschnationalismus gründlich ausgetrieben und die Leute begannen erst nach und nach, sich mit der neuen nationalen Identität anzufreunden – was von SPÖ und ÖVP tatkräftig unterstützt wurde. Über viele Jahre hinweg bekam man In der Schule, über das Fernsehen und die Zeitungen einen neuen Patriotismus eingeimpft – als slow history, einem langsamen Prozess. Noch 1964 hielten nicht einmal die Hälfte der Befragten die Österreicher für eine Nation, 1993 waren es schon 80 Prozent (natürlich war diese Antwort damals politisch erwünscht).

Als die Antiösterreicher galten die Freiheitlichen – weil sie sich als deutschnational definierten, aber auch, weil sie sich bereits in den 1960er-Jahren für die Schafffung eines europäischen Staats einsetzen (was damals als ziemlich verrückt angesehen wurde). Der FPÖ-Gründungsobmann war eine Person, die nach dem Krieg ins Gefängnis gesteckt worden war, weil sie in einem Übergangskabinett die Machtergreifung Hitlers vorbereitet hatte.

Diese politische Großwetterlage währte gut eine Generation. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre beschlossen SPÖ und ÖVP aber, dass die Zeit für einen Schwenk gekommen sei. Das war ein politisches Manöver von einem riesigen Ausmaß, das durch den “reformfreudigen” Generalsekretär der sowjetischen kommunistischen Partei, Michael Gorbatschow, ermöglicht wurde. Die Angst vor dem russischen Bären, die allen irgendwie noch in den Knochen steckte, verflüchtigte sich.

1989 schickte der Ballhausplatz den Bewerbungsbrief an Brüssel ab, 1994 fand die Volksabstimmung statt und 1995 trat Österreich den zur Union gewordenen Europäischen Gemeinschaften bei. Um diese Zeit änderte sich auch in der Innenpolitik manches, was bis dahin gegolten hatte. An der alleinigen Machtstellung des Duopols änderte sich aber nichts.

Im Laufe der Zeit hatten sich SPÖ und ÖVP zu einem monströsen Doppelwesen mit zwei Köpfen entwickelt, das sich Einfluss und Pfründe geschwisterlich teilte, auch zu Zeiten, in denen die einen ohne die anderen regierten (was die Ausnahme war).

Das erzeugte unter dem Staatsvolk – zunächst – erstaunlich wenig böses Blut, jedenfalls nicht so viel, dass es ernsthaft geschadet hätte. Noch 1986 wählten mehr 84 Prozent eine der beiden Parteien. Damit konnten diese nach wie vor und mit spielerischer Leichtigkeit die Verfassung ändern, was ja eine Zweiidrittelmehrheit im Nationalrat erfordert. Damals beteiligten sich noch 90 Prozent an der Nationalratswahl.

Um diese Zeit herum sahen die emotionalen Bindungen der Bevölkerung zu verschiedenen territorialen Einheiten folgendermaßen aus. Die Umfrage von 1987 entstammt einem Aufsatz eines Wiener Sozialhstorikers.

Emotionale Verbundenheit, %
Heimatort  29
Bundesland 27
Österreich 39
Deutscher 1
Mitteleuropäer 2
Weltbürger 2
Anderes 1

In den folgenden fünf bis zehn Jahren begannen sich SPÖ und ÖVP zunehmend von der selbstgeschaffenen patriotischen Staatsideologie abzuwenden. Sie wurden zu paneuropäischen Parteien.

Sie versuchten zwar, das zu verbergen, das gelang ihnen auf die Dauer aber nicht – auch wenn die Spitzenpolitiker glaubten, mit rotweißroten Schals zu Fußballspielen oder Schirennen ausrücken und damit punkten zu können.

Immer mehr Wähler begannen den Braten zu riechen. Ohne dem Strom der Nachrichten besonders genau zu folgen, konnten sie erkennen, wie ihre politische Klasse diesmal im Namen einer europäischen Reichsideologie siw Rechte des nationalen Parlaments einschränkte bzw. an Dritte tranferierte, die von ihnen, den Staatsbürgern, nicht gewählt worden waren. Die, denen das gegen den Strich ging, hörten mit der Zeit auf, SPÖ und ÖVP zu wählen.

Das führte letztlich dazu, dass im September 2013 nur mehr 51 Prozent “rot” oder “schwarz” wählen und dass deren Unterstützung ein halbes Jahr später auf 44 oder 45 Prozent zurückgegangen ist wie Umfragen zeigen.

Die Wahlbeteiligung lag Im Herbst 2013 nur mehr bei 75 Prozent. Ein beträchtlicherTeil der heutigen Nichtwähler ist der Ansicht, dass Wählen sowieso keinen Sinn hat, weil erstens “sowieso alles in Brüssel entschieden wird” und weil zweitens SPÖ und ÖVP “sich den Rest ohnedies untereinander ausmachen”.

Von der Aufkündigung der Loyalität durch die beiden ehemaligen Staatsparteien profitierte zunächst ein junger Aufsteiger auf der politischen Rechten – Jörg Haider, der 1986 das Ruder in der FPÖ übernahm. Während der folgenden zehn Jahre war die FPÖ noch klar deutschnationalistisch und proeuropäisch – was eigentlich ein zweifaches Minderheitenprogramm war. Trotzdem konnte sie ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln – während Haider auf SS-Treffen noch Reden schwang.

Er und die FPÖ übnernahmen im Prinzip aber das Vorgehen von SPÖ und ÖVP – oder besser: eine spiegelverkehrte Strategie. Die FPÖ veränderte ihre “Identitätspolitik” von deutschnationalistisch-proeuropäisch zu kleinösterreichisch. Beide Seiten spielten eine Art “Bäumchen-wechsle dich-Spiel”: Die bis dahin überzeugten Deutschnationalen wurden zu Östereichpatrioten und die bisherigen glühenden Österreicher zu “glühenden Europäern”.

Das führte unter anderem dazu, dass Haider 1999 27 Prozent der Stimmen einfuhr – obwohl er offiziell gar nicht kandidierte. Zusammen mit einem Schwächeanfall der SPÖ hatte das einen Regierungswechsel zur Folge, nach dem sich eine Hälfte des Doppelmonsters tatsächlich einmal “draußen vor der Tür” wiederfand.

Paradoxerweise hatte die FPÖ ihren Höhepunkt aber erst einmal überschritten. Vor allem ein einschneidendes Geschehnis des Jahres 2002 war es, “Knittelfeld”, das dazu führte, dass die FPÖ bis heute ihre Höchstmarke von 1999 nicht überschreiten konnte.

Die Erklärung, die 1999 aufgetischt wurde, war, dass Haider eben ein politischer Rattenfänger sei und er erfolgreich den “Bodensatz” der österreichischen Gesellschaft habe mobilisieren können, die weniger Gebildeten, ökonomisch nicht Aktiven und Faschismusanfälligen. 2002 hieß es dann, dass die FPÖ nach nur drei Jahren in der Regierung entzaubert worden sei.

Die Trendumkehr schien geschafft. In vorverlegten Neuwahlen fuhr die ÖVP einen großen Sieg ein und kam mit der SPÖ zusammen auf fast wieder 77 Prozent, ein Ergebnis das zuletzt 1990 erzielt werden konnte.

Für die beiden ehemaligen Großparteien wurde diese Wahl trotzdem nicht zu jenem Wendepunkt, den sich ihre Strategen erträumt hatten. Das zeigt sich u.a. daran, dass Sozialdemokraten und Konservative danach erneut verloren und dass auch das zeitweise Ausscheiden der SPÖ aus der Regierung den langfristigen Abwärtstrend nicht stoppen konnte. Selbst 2006, nachdem sich die Sozialdemokraten sieben Jahre in der Opposition “regenerieren” hätten können, büßten die Stimmen ein. Sie “gewannen” 2006 nur, weil die ÖVP damals noch mehr Stimmen verlor.

Das ist insofern nicht verwunderlich als sowohl SPÖ und ÖVP für eine Spielart der europäischen Integration eintreten, die darauf hinausläuft, die politische Selbstständigkeit des Landes, für die ihre Parteiväter eine Generation lang Propaganda gemacht hatten, auszulöschen. Ein politischer Kurs, der eigentlich ohne Not eingeschlagen worden war…..

Vielleicht ist jenes Staatsbürgervolk, das so lange benötigte, um sich an seinen neue nationale Identität und die politische Selbstständigkeit zu gewöhnen, ernsthaft darüber verschnupft, dieser wieder beraubt zu werden. Und argwöhnisch geworden, dass die ganze Angelegenheit nur ein Projekt von SPÖ und ÖVP sein könnte, an der Macht zu bleiben – von jetzt an bis in alle Ewigkeit.

Ab Sonntagabend sind das zweite und dritte Kapitel in Volltext abrufbar.

Foto: Hans-Jürgen Hübner, Wikicommons

 

 

Unabhängiger Journalist

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