Leben & Sterben, enzyklopädisch – Auf der Suche nach der S-Kurve

Vaclav Smilsmil_growth_cover, der große Energie-Gelehrte, hat über die Phasen des Wachsens und Vergehens von (fast) allem veröffentlicht. Der Tschecho-Kanadier wäre nicht er selbst, würden seine Themen nicht vom Einzeller bis zur Schallplatte reichen. Smil, der sich zeit seiner Karriere als Jäger anti-szientifischer Mythen gesehen hat, erlebt seinen eigenen Limits to Growth-Moment, weigert sich aber, die härteste Wachstums-Schranke auch nur zu benennen – die energetische, ironischerweise.

Im Unterschied zu seiner Zivilisationsgeschichte der Energie zielt dieses Alterswerk nicht nur auf uns Menschen ab.

Der Autor begnügt sich nicht einmal mit der belebten Welt, sondern greift auch nach der unbelebten, beispielsweise sehr alten Bäumen, die zu einem Gutteil bereits aus anorganischer Materie bestehen.

Oder nach elektronischen Bauteilen und Segelschiffen.

Was er bei dieser geradezu universellen Suche findet, sind Varianten zweier unterschiedlicher “Lebenspfade”- mathematisch gesprochen: der Normalverteilung und der Logistik-Funktion (“S-Kurve”).

Zur Bebilderung der beiden Kurven zwei Beispiele von Wiki Commons:

Logistische_Funktion.svgStandard_deviation_diagram.svg

Sehr viele Prozesse in Natur & Kultur zeigen das Muster von mehr oder weniger symmetrischen “Glockenkurven des Carl Friedrich Gauß” – aber es existieren auch Gegen-Exempel, beispielsweise

  • Bakterien (ein paar Milliarden Jahre alt)
  • die Hufeisen-Krabbe (ein paar Hundert Millionen Jahre)
  • Gürtelschnallen (ein paar Tausend Jahre),
  • Schrauben (ein paar Hundert Jahre) oder
  • das Festnetz-Telefon mit Wählscheibe (bei seinem Tod ca. 50 Jahre alt).

Bei menschlichen Organisationsformen und Prozessen, sagt Smil, sei die Bevölkerung von Greater London ein Beispiel, dass die Normalverteilung mit ihrem jähen Absturz “auf der Rückseite” kein blindes Schicksal sei.

Greater London & Hubbert-Kurve

Während die Normalverteilungs-Kurve erwarten hätte lassen, dass im Jahr 2050 im metropolitanen Gebiet nur mehr 2,1 Millionen Menschen lebten, habe der Großraum wg. Zuwanderung inzwischen die Kurve gekratzt und stehe heute schon wieder bei 8 Millionen.

Oder die Erdöl-Förderung in den USA.

Während die sg. Hubbert-Kurve bis 2008 die Wirklichkeit richtig beschrieben habe, sei es danach zu einem Wendepunkt und einem Wiederanstieg gekommen

- dergestalt, dass die Staaten in Sachen Erdöl heute Netto-Exporteur oder wenigstens “faktisch autonom” seien.

***

Nun, der große Energie-Gelehrte ist Smil und nicht dieser Blogger – ich erlaube mir aber schon drauf hinzuweisen, dass die Schiefer-Revolution ein Phänomen sui generis sein könnte,

ähnlich wie die neueren Hochöfen – jene nach den Bessemer furnaces -, die alle “Glockenkurven” geformt haben (siehe Smil, Grafik S. 465).

Dass dem so ist, darauf deuten auch die “Abbau-ähnlichen” Prozesse der Technologie hin, aber auch die enormen decline rates der Quellen, die einen sehr spitzen, demnächst peakenden Produktionsverlauf erwarten lassen.

Der Hinweis auf die wieder wachsende US-Produktion von definitorischem Erdöl klingt eher nach Pfeifen im Wald.

So wie der Satz, in dem der Autor versichert, die Weltbevölkerung sei gerade dabei sich S-Kurvenförmig zu entwickeln (S. 510).

Natürlich sind Graphe keine Vorhersagen und Prognose-Keuschheit gehört zu den womöglich stärksten Seiten dieses Wissenschaftlers.

Aber derselbe Mann hat im Lauf eines Gelehrtenlebens mehr als jeder andere klar gemacht, welche enormen und wachsenden Energie-Quantitäten den Menschen seit dem 19. Jahrhundert plötzlich zur Verfügung standen.

Es steht weiters außer Frage, dass sich im gleichen Zeitraum die Erdbevölkerung versiebenfacht hat und das Mindeste wäre, eine Korrelation zwischen den Phänomenen festzustellen (wenn schon keine Kausalität, die dieser Blogger als wahrscheinlich ansieht).

Smil tut das nicht und das ist menschlich, moralisch und politisch verständlich.

Aber es ist inkonsequent.

Der Mann macht zu Recht geltend, dass es in einer Welt endlicher Ressourcen kein unendliches Wachstum geben kann und weist das

Kurzweilian promise of infinite growth”

nachvollziehbar zurück.

Er macht sich über den hohen Preis des Wachstums für die Biosphäre Sorgen

- etwa in Form von Umweltverschmutzung, der Erschöpfung von Süßwasser-Reserven, der Erosion landwirtschaftlich genutzter Böden oder der Entwaldung in den Feuchtgebieten (S. 511).

“Energiemangel” kommt – ausgerechnet – im Buch des Vaclav Smil nicht vor.

Vaclav Smil, Growth. From Microorganisms to Megacities. 2019

Bild: Stefan Pohl, M. W. Toews via Wikimedia Commons

Unabhängiger Journalist

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