Nachtrag zum G’schichterl über das Russen-Erdöl für Indien

Nur wenige der modernen Mythen sind derartig zäh wie die Story über russische Erdöllieferungen nach Indien, deren Anteil an den einschlägigen RF-Exporten sich seit den sg. Sanktionen vervielfacht haben soll. Dieses Narrativ ist “IMO” bestenfalls schwer übertrieben und schlechtestenfalls eine reine Propagandalüge. Ein (echter) Faktencheck.

Vorbemerkung: Dieser Blogger hat insoferne ein persönliches Interesse an dem G’schichterl, als zwei Bekannte, an denen ihm viel liegt, Verfechter davon sind, was unsere “persönlichen Beziehungen” belastet. In dem einen Fall handelt es sich um einen alten Schulfreund, einen sehr rationalen Menschen, der Techniker geworden ist und zeit seines Berufslebens kalorische Kraftwerke projektiert und umgesetzt hat.

Der zweite Anlassfall ist ein US-amerikanischer Blogger, auf dessen Urteilsfähigkeit ich ansonsten viel gebe. Das ultimative Argument dieses Mannes ist, dass professionelle Vessel-Tracker, Bloomies und Reuters derlei verzapfen und dass es daher wahr sein müsse. Auch viele, denen die Kriegstreiberei der neuen Block-Konfrontation zuwider ist, fallen auf das Mem rein.

Zuerst ein paar Anmerkungen meinerseits.

Laut Bruegels Russian Crude Oil Tracker, der “fremde” – aber glaubwürdige, weil auch auf anderweitige Werte “passende” – Daten verwendet, hat Indien noch 2021 lediglich 0.4 Millionen Tonnen russisches Rohöl pro Monat importiert, jetzt sollen es mehr als 2 Mio. Barrel pro Tag sein.

400.000 Tonnen waren nach einer groben Kalkulation aber nicht einmal 100.000 Fass pro Tag (7 Barrel pro Tonne an 30 Tagen im Monat).

Das würde, wäre es wahr, gut eine Verzwanzigfachung binnen zwei Jahren bedeuten, was allein wenig wahrscheinlich ist.

Eine solche Vervielfachung liegt trotzdem im Bereich des Möglichen – sofern die nötige Infrastruktur vorhanden ist.

Das ist aber nicht der Fall.

  • Zunächst existiert – soweit öffentlich bekannt – keine “robustere” Pipeline nach Indien (auch keine über den Iran).
  • Für den Transport kämen also nur nur eine West- und eine Ostroute mit Tankern in Frage, die bei näherer Betrachtung freilich beide wenig wahrscheinlich sind.
  • Das Narrativ von den Lieferungen über das östliche Kosmino in indische Ölhäfen “hatscht” aus mehreren Günden gewaltig. Da ist a) zunächst einmal die begrenzte Kapazität der ESPO sowie die ebensolche der Förderung im “Einzugsgebiet” dieser Pipeline. Natürlich kann bei entsprechendem Aufwand beides verbessert werden (ist ja auch geplant), aber das ist ein sich hinziehender, langsamer und kapitalintensiver Prozess, der über viele Jahre läuft. Weder die Bruegel-Charts noch die – zugegeben – Ganzjahreszahlen der (ehemaligen) BP-Statistical Review für China (Pipeline und Schiff) deuten auf eine solche Entwicklung hin, siehe z.B. auch Fig.5 in Bruegels Crude Oil Tracker. Derlei wäre eigentlich aber zu erwarten. Es gibt b) auch keine Indizien auf eine leistungsfähige Durchleitung aus dem bisher für Europa bestimmten Pipeline-System, das in Westsibirien bzw. im Nord-Ural seinen Ausgang nimmt (das ist ein “Faktoid”, das auch gegen eine massive Verschiffung über Novorossyjisk spricht). Der in Moskau lebende John Helmer geht in seinem Blog davon aus, dass Öl von dort in kleineren Mengen sehr wohl seinen Weg nach Fernost findet, dass der Lückenschluss aber mühsam mittels Eisenbahn erfolgen muss. Es leuchtet freilich nicht ein, dass ein Zug leistungsfähig genug wäre, um eine Verzwanzigfachung der Lieferungen nach Indien zu ermöglichen. Zwar könnte Russland, sobald von NATO-Europa “sanktioniert”, sehr wohl begehrlich auf die Raffineriekapazitäten Indiens schauen; doch der Subkontinent hat hier selbst knappe Ressourçen. Er verfügt zwar über drei Mal so viel Einwohner wie “Europa gesamt”, aber nur ein Driitel seiner Raffinerikapazität (BP Statisical Review S. 26). Ein “Veredelungsverkehr” mit Öl/Ölprodukten mit Indien wie jener früher mit Europa ist angesichts der fehlenden Infrastruktur schon daher schwer vorstellbar. Zuguterletzt würde c) eine Belieferung Indiens über Kosmino eine sagen wir: Vervierfachung der Lieferstrecke bedeuten. Die cinesischen Terminals an der Pazifikküste sind dem gegenüber “grad um die Ecke”.
  • Weiter westlich würden sich vergleichbare Probleme auftun. Zunächst müssten riesige Mengen Erdöl von Nord nach Süd durch den Suezkanal geschippert werden, nämlich nachhaltig zwei bis drei Suezmaxe pro Tag, die “im Westen” derzeit weder angemietet noch versichert werden können (hier ein “Plan” um das Problem zu umgehen, wohl ein Dummy). Das ist grundsätzlich nicht auszuschließen, sofern die russische “Schattenflotte” tatsächlich existiert und ausreichend Transportkapazität hat – vor allem, wenn auch ULCCs verwendet werden können (weil das Rohöl in Ägypten für eine kurze Strecke durch eine Pipeline gepumpt werden kann). Das Ganze bliebe trotzdem ein Nadelöhr. Für die Beladung käme eigentlich nur der Schwarzmeerhafen Noworossyjisk in Frage, weil Primorsk, Ust-Luga oder gar Murmansk zu weit weg sind. N. hätte nominell zwar ausreichend Kapazität, aber keine nennenswerte Verbindung zu den ergiebigeren RF-Vorkommen im Autonomen Kreis Nenzen/Timan-Petschora bzw. zum Baltischen Pipeline-System – sehr wohl jedoch zu den ohnedies “reifen” Feldern im Einzugsgebiet der Druschba sowie  zu kaspischem Öl, das sowieso nur zum Teil russisch ist und “Sanktionen” unterliegt.

Fazit: Die schon hier und hier bezweifelte Story von der indischen Veredelung des üppig sprudelnden russischen Rohöls “fliegt nicht”.

Davon unabhängig haben die EU und Resteuropa 2022/23 nicht nur fast das gesamte russische Erdgas verloren, das noch 2021 40 Prozent aller Gas-Einfuhren ausgemacht hat,

sondern (bisher) auch mindestens neun Zehntel des russischen Rohöls im Umfang von mehr als 10 Mio. Tonnen pro Monat (per Juni 2023; der Lieferanteil allein der RF betrug früher etwa 30%).

Gleiches gilt wohl auch für Ölprodukte wie Diesel oder feed stock für Kunststoffe, die bisher einen RF-Importanteil von an die 40 Prozent hatten (dieser Blogger hat hier zu geringe Kenntnisse).

Freilich ist das nicht einmal die halbe Wahrheit, weil sich der geopolitische Einfluss Russlands und Chinas auch bei anderen traditionellen Öl-Lieferanten des “alten Kontinents” bemerkbar machen dürfte.

All das ist nach Meinung dieses Bloggers “ungleich realer” als das von der Journaille unterstützte, weithin geglaubte Indien-Narrativ zum russischen Erdöl.

Unabhängiger Journalist

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