Neofeudal oder digitalfaschistisch? Ein Wettstreit der Analogien

cover_resizedUS-Urbanist Joel Kotkin prophezeit für eine postdemokratische (und postindustrielle?) nahe Zukunft die Rückkehr des Feudalismus in digitalem Gewand – etwas, das nur unter einer weithin unerwarteten, speziellen Bedingung möglich zu sein scheint (die Kotkin nicht einmal erwähnt). Für den Fall einer Fortschreibung der Entwicklungen vergangenen 30 Jahre wäre der Begriff “digitalfaschistisch” wohl angebrachter.

The Coming of Neo-Feudalism ist nicht nur eine Provokation für die grün-gauchistische Doxa, sondern auch ein nicht ganz gelungener Versuch, ein epochengeschichtliches Schema zur Interpretation jüngster Entwicklungen heranzuziehen.

Der als konservativ geltende Kotkin vergleicht Leute wie Jeff Bezos & Mark Zuckerberg mit der mittelalterlichen (hohen) europäischen Aristokratie,

die nach dem Fall des Weströmischen Reichs über einen Zeitraum von 1.000 Jahren alle Macht an sich gerissen, freie Akteure gefangen genommen und Wirtschaft und Geistesleben zur Stagnation verurteilt habe.

Legitimiert werde diese durch eine neue, säkulär und progressivistisch orientierte Klerisei

- gepamperte Akademiker & Intellektuelle, die mit der (“katholischen”) Amtskirche des Mittelalters zu vergleichen seien.

Die große Masse – der heutige “Dritte Stand” gewissermaßen – bestünde aus den absteigenden Mittelschichten der vergangenen 70 Jahre,

die früher in stabilen industriellen Arbeitsverhältnissen unterbrechungsfrei und gut verdient und einen bürgerlich-vorstädtischen Lebensstil gepflegt haben

(das schließt in den USA auch qualifizierte blue collar workers ein sowie in geringerem Ausmaß das Beamten- und Bildungsbürgertum, das in Europa stärker vertreten ist).

Dritter Stand

Dieser Tiers état, der analog zu mittelalterlichen freien Bauern gesehen wird, stehe nun vor der ökonomischen Vernichtung

(womit an eine seit fast zehn Jahren laufende US-Debatte über das Ende des Mittelstands angeknüpft wird),

schreibt Kotkin in dem Text, der größtenteils noch “vor Corona” verfasst wurde (mit “Corona” hat sich dieser Prozess noch beschleunigt).

Der größere Teil der Mittelschicht der Industrie-Ära werde wohl ins Prekariat absinken – wo er (bestenfalls) zum Transferempfänger eines neuen “Wohlfahrtsstaates” werde,

ein unproduktiver bystander wie die Plebejer der altrömischen Kaiserzeit, die vom Imperator alimentiert und deren Arbeit sukzessive von Sklaven übernommen wurden.

Ein kleinerer Teil der Abkömmlinge solcher “Yeomen”, wie Kotkin die persönlich Freien nach englischem Muster nennt, schaffe freilich den Sprung in den Klerus des 21. Jahrhunderts,

deren Vorläufer K. für den zweiten Stand zu halten scheint (eigentlich war es der erste).

Damit war im Regelfall Schluss mit der upward mobility, denn die neue Aristokratie, die “selbst in der Garage begonnen hat”, hält nicht viel von Mobilität nach oben (und noch weniger von Familie und Eigentum).

Die neuen Feudalherren huldigten idR den gleichen “progressivistischen Religionen” wie der säkuläre Klerus – “social justice” und “grünen Ideologemen”,

ggf. vermehrt um Transhumanismus und Techno-Utopismus.

Kotkin hat ein “scharfes Auge”, wie beispielsweise den Abschnitten über das (heutige) Kalifornien (Kapitel 5) oder die Neue Geographie des Feudalismus (Teil 6) zu entnehmen ist,

der sich seinem Leib- und Magenthema, der Geschichte und Philosophie jüngerer US-amerikanischer Siedlungen widmet.

Die zentrale Frage ist freilich, wie weit Kotkins Analogie mit dem Feudalismus trägt (und unter welchen Prämissen dieser tatsächlich zurück kehrt).

“Pferdefüße”

Der Aufstieg der Tech-Aristokratie aus dem Silicon Valley vollzieht sich, wie Kotkin selbst einmal bemerkt, unter den Fittichen von und in enger Abstimmung mit einem Zentralstaat,

was bei deren mittelalterlichen Vorläufern definitiv nicht der Fall gewesen ist

(man könnte sogar umgekehrt argumentieren, dass die – bereits neuzeitlichen – Territorialstaaten feudale Zersplitterung und Parzellierung eingedämmt hätten, zu Lasten der – nicht höfischen – Aristokratie).

Der Autor ignoriert hier die entscheidende Rolle, die “flexibles” Buch- bzw. Papiergeld bei der Entstehung dieser Verbindung gespielt hat.

Und natürlich gab und gibt es keine “harten Standesschranken”, die z.B. verhindern würden,

dass die Tochter des Big Tech-Unternehmers und der jugendliche Regierungsbürokrat einander ggf. “morganatisch heiraten” (natürlich auf Basis gemeinsamer quasi-religiöser Überzeugungen).

Digital-Faschismus scheint an dieser Stelle die bessere historische Analogie zu sein, natürlich ein”moderner”, antinationaler und ökofreundlicher Faschismus

- einer, in dem Staat und “digitales Kapital” verschmelzen.

“Strom-Feudalismus”

Freilich gibt es ein Szenario, in dem tatsächlich besser von Feudalismus die Rede wäre

- wenn die Veränderungen nämlich unter Umständen energetischer Knappheit stattfinden (wie im wirklichen Mittelalter) – und “feudale Gewaltmonopolisten” den Zugang zu Elektrizität kontrollieren.

Joel Kotkin,Coming of Neo-Feudalism: A Warning to the Global Middle Class. 2020

Unabhängiger Journalist

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