Branko Milanovic, der an der London School of Economics unterrichtet, gilt als Kenner der Ungleichheit. Das empfiehlt ihn Kapitalismus-Fans, die sich unter all den vielen Gleichheits-Freunden schon die ganze Zeit allein fühlen. Tatsächlich enthält sein neuester Text Capitalism, Alone eine Reihe interessanter Beobachtungen. Branko meint, dass das westliche und das chinesische K-System konkurrierende Modelle des Kapitalismus seien, und dass es heute dazu keine Systemalternative gebe wie noch zu Lebzeiten der Sowjetunion. Das freilich ist nicht sicher – so wie es unsicher ist, wofür das K vor “System” wirklich steht.
Milanovic unterscheidet zwischen dem “liberalen, meritokratischen Kaptitalismus”, der im Westen verbreitet und dem politischen Kapitalismus, der idealtypisch in China verwirklicht ist.
Beide hätten spezifische Nachteile – das erste Modell habe einen Hang zu exzessiver Ungleichheit und das zweite zu Korruption und Nicht-Rechtsstaatlichkeit (bzw. “selektiver Anwendung des Gesetzes”).
In beiden Fällen handle es sich jedoch um “Kapitalismus”, erklärt Milanovic und beteuert: Tertium non datur – es gebe heute eben nur die “westlich-liberale” und die “östlich-autokratische” Variante dieses Wirtschaftssystems.
Beide Varianten seien different, jedoch definitv kapitalistisch – was den schon erwähnten, wenig zustimmungsgewohnten Wirtschaftsliberalen wie Öl die Kehle hinuntergeht;
so sehr, dass diese ansonsten kritischen Geister darüber vergessen, was Friedrich A. Hayek 1944 über den Weg zur Knechtschaft geschrieben hat (“Die Chinesen sind ja schließlich keine Sozis, sagt auch der Branko.”)
Dieser Blogger erlaubt sich bei dieser Systematik seine Zweifel.
Klar ist zunächst, dass weder das eine noch das andere Modell dem entspricht, was Karl Marx darunter verstanden hat (und wohl auch nicht der Vorstellung von Adam Smith, hätte dieser 50 Jahre vorher schon über den Industriekapitalismus geschrieben)
- und der Unterschied sind “Licht-” – und nicht bloß 200 Jahre Wirtschaftsgeschichte.
Weder Smith noch Marx noch der “klassische Kapitalismus” des 19. und 20. Jahrhunderts haben das durchfinanzialisierte System gekannt, das Milanovic als “Kapitalismus” bezeichnet..
Erstens: Der heutige “Kapitalismus” ist ein System, das von einer nicht kontrollierbaren Finanzelite in Zentral- und Kommerzbanken organisiert und gesteuert wird und das in wesentlichen Teilen das glatte Gegenteil dessen ist, was den “klassischen Kapitalismus” ausmacht.
Diese “Super-Struktur” sitzt auf beiden von Milanovic thematisierten “Kapitalismen”. Seltsamerweise spricht der Autor nie von dieser.
Zweitens – und fast noch wichtiger – ist der Umstand, dass die von M. schon lange thematisierten welterschütternden Umwälzungen, die Reduzierung des income- und wealth gaps zwischen West und Ost, der Aufstieg östlicher Mittelschichten etc., Folge einer dort stattfindenden “industriellen Revolution” nach europäischem Muster und mit allem Drum und Dran war,
inklusive “lokaler entrepreneurs” und der Automation biophysischer Produktion mittels Maschinen, die mit fossilen Treibstoffen angetrieben werden.
Milanovic maskiert das aus welchen Gründen immer – indem er den Aufstieg der asiatischen Mittelschichten direkt mit der ICT, der Revolution der Informations- und Computertechnik in Zusammenhang bringt.
Wohl wahr – die ICT-Revolution fand (zuerst) im Westen statt und erzeugte die Nachfrage, von der die “politischen Kapitalisten” Ostasiens profitieren konnten. Das war aber nur dadurch möglich, dass Ostasien die Industrielle Revolution 1.0 “Kapitel Leichtindustrie” nachholte.
Dabei mögen Faktoren eine Rolle gespielt haben, die es im Original aus dem 18./19. Jahrhundert nicht gegeben hat (leichter Kredit, “Globalisierung” bzw. weitgehender Freihandel und FDI).
Komischerweise spricht Milanovic auch nicht über die “konzentrierte Energie” der industriellen Revolution – nicht einmal über die unter Grünen modische “Schattenpräsenz” CO2.
Einkommens-Elefant & Internationale Solidarität
Abgesehen von solch scheinbar blinden Flecken und taxonomischen Problemen beschreibt der ehemalige Student einer titoistischen Universität in Belgrad und spätere langjährige Weltbank-Mitarbeiter weitgehend valide den historischen Globalismus der vergangenen 30 Jahre, siehe hier bzw. – vereinfacht – mit einem berühmt gewordenen Elefanten-Graph (siehe z.B. hier).
Diese Grafik mag ihre diskussionswürdigen Details haben – zum Beispiel
- den angeblich “exklusiv chinesischen Buckel” vom vierten bis zum sechsten Einkommensperzentil oder den Umstand, dass
- der steile Abfall von der Stirn des Elefanten bis zum Beginn von dessen Rüssel im siebten Perzentil angeblich nur durch Einkommens(zuwachs)einbußen in den ehemaligen kommunistischen Staaten und sowie im deflationären Japan verursacht wurde.
Hier scheint der Hauptbefund des Milanovic über jeden Zweifel erhaben:
dass es nämlich seit dem Ende des Kommunismus zu einem Aufstieg asiatischer Mittelklassen und einem Abstieg “westlicher Volksklassen” gekommen ist
- die Frage ist nur: Warum?
(Für den Staatsstreich-Blogger ist die “fossilgetriebene industrielle Revolution in Ostasien” gepaart mit der Finanzialisierung à la FED, EZB & PBoC ausschlaggebend – das rasante Einkommenswachstum ab dem “globalen zweiten Perzentil” und der “steil nach oben zeigende Rüssel” im zehnten Perzentil sind beide Bestandteile ein- und desselben Syndroms).
Die Folge davon ist – Milanovic spricht das 2013 noch freimütig aus - dass es keine Solidrität zwischen den “zunehmend deklassierten Volksklassen” des sg. Nordens und den “aufstrebenden, zunehmend urbanen Mittelschichten” Ostasiens geben kann.
Es scheint sich hier tatsächlich um eine Art relatives Nullsummenspiel zu handeln
und die einfachste Art das auszudrücken ist der (momentan noch verschleierte) Konkurrenzkampf, der zwischen westlichen blue collar workers und den neuen asiatischen Mittelschichten um dieselben Ressourcen tobt.
(Übrigens erlaubt Westexas/Jeffrey Brown eine der noch seltenen Einsichten, indem er den Verteilungskampf um Erdöl anhand von “available net oil exports” analysiert – siehe dazu u.a. dieses Interview.
Die Volksrepublik ist in einem entsprechenden Westexas-Chart der Gewinner und Europa der große Verlierer – wobei man in Rechnung stellen muss, dass die USA zunehmend importunabhängig sind).
Es ist alles in allem ein ungleicher Kampf, weil die politisch-medialen Eliten Ostasiens “ihre” neue Bourgeoisie voll unterstützen, während ihre Gegenstücke speziell in Europa “ihre eigenen ‘Volksklassen’, die im internationalen Vergleich noch reich sind”, unterminieren.
Dazu treten medial überrepräsentierte politaktivistische, kirchliche & jugendkulturelle Gruppen, die mit haarsträubenden Klima-Narrativen die eigenen Leute auf Verzichtskurs bringen möchten.
Diese Allianz verfügt in den wichtigsten EU-Staaten über die politisch-kulturelle Hegemonie.
Es ist dasselbe Bündnis, das unter dem Deckmantel des CO2-Warmismus heute eine de facto-Kapitulation betreibt, die in ein echtes Energie-Harakiri der EU zu münden droht,
dessen Folgen noch unabsehbar sind.
Ein Kapita-Kommunismus-Nexus
Im vorletzten und letzten Kapitel von Capitalism, Alone beschreibt Milanovic die bevorstehende Hyperkommerzialisierung seines “TINA-Kapitalismus” (p.185) und verwendet dafür Begriffe wie “commodification” und “atomization” – seit gut hundert Jahren Dauerbrenner aller marxistischen Kapitalismus-Analysen.
Milanovic sagt damit, dass Volk, Sippe, Familie und Privatleben dem vollendeten Kapitalismus jedweder Ausprägung letztlich im Weg stünden und daher weggeräumt würden.
Auch in diesen Passagen glänzen die eigentlich mit Händen zu greifenden Mega-Faktoren Finanzialisierung und fossile Brennstoffe durch Abwesenheit.
In seinen Politikempfehlungen spricht sich Milanovic wiederum für Substanzsteuern, die ausschließlich öffentliche Finanzierung von Wahlkämpfen und die Einführung einer “citizenship light” aus, einer Staatsbürgerschaft light, die Immigration und Teilhabe am Sozialstaat ermöglichen soll – “ohne einen nationalistischen backlash zu provozieren” (p.217).
Der Autor, der davon ausgeht, dass sich der meritokratische Kapitalismus westlicher a la longue in einen crony-Kapitalismus östlicher Prägung verwandeln wird, meint übrigens, es sei
an der Zeit, die Korruption zu normalisieren. Wir müssen in beiden Formen des Kapitalismus die Korruption als Ertrag zu sehen beginnen (…), als einen besonderen Faktor der Produktion (…) Ökonomen, die keine Moralisten sind, sollten Korruption wie jeden anderen Einkommenstypus betrachten.” (p.131)
Branko Milanovic, Capitalism, Alone: The Future of the System That Rules the World. 2019
Branko Milanovic, Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization.2016
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