Türkei: Anschlag in Ankara als Vorwand für Einmarsch in Syrien?

Für die türkische Regierung liegen die Schuldigen für das Selbstmordattentat in Ankara auf der Hand. Das Blutbad war für sie eine Gemeinschaftsproduktion der syrischen Kurdenmiliz YPG mit der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Diese dementierten postwendend. Die YPG sieht einen Vorwand für einen türkischen Kriegseintritt. Ein Gastbeitrag von Andrea Viyana.

Nur wenige Stunden nach dem Anschlag mit über 28 Toten und 61 Verletzten stehen die Täter für die Regierungspitze fest: Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu ließ schon in den Morgenstunden des Donnerstag keine Zweifel offen. Für Davutoglu hat der Terrorananschlag „rechtsgültige Beweise“ geliefert, dass die YPG, entgegen der Ansicht Washingtons ebenso wie die PKK eine Terrororganisation sei.

Sofort nach dem Anschlag hat Ankara auf die üblichen Verdächtigen als Täter gedeutet (ein bis Hollywood bekanntes Verfahren: “Round up the usual suspects!”)

Es gebe „untrügliche Zeichen“, die auf die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hindeuten, gab ein namentlich nicht genannter Regierungsvertreter zu Protokoll. Gegen 20 Uhr wurde ein Nachrichtensperre und Berichtsverbot für die Medien in Bezug auf das Attentat verhängt. Eingehalten wurde es nicht. Mittlerweile wurden vierzehn Personen im Zusammenhang mit dem Anschlag festgenommen.

Der ehemalige Leiter des Polizeinachrichtendienstes, Sabri Uzun, erklärte gestern, die Art der Bombe trage die Handschrift des Islamischen Staates IS. Für den Militärexperte Metin Gürcan ist „diese Art des Angriffs in der Türkei neu“, erklärte er gegenüber dem türkischen Sender CNN Türk.

Zwar habe es schon zuvor Selbstmordanschläge gegeben, aber bisher wurde keiner mit einem Fahrzeug ausgeführt. Ein solches Attentat setze eine wochenlange Planung voraus und schließe eine Gruppe von mindestens zehn bis zwölf Personen mit ein.

Bei dem Selbstmordanschlag am Mittwochabend kam ein in Izmir gestohlener Cheep Cherokee mit einem Istanbuler Kennzeichen zum Einsatz. Das Fahrzeug folgte drei hintereinander fahrenden Service-Bussen des Militärs. Nachdem diese an einer Ampel stoppten, explodierte es. Laut Regierungsangaben starben vorrangig Angehörige des Militärs, siehe hier.

Noch ein Terrorist aus Syrien

Die regierungstreue islamistische Zeitung „Yeni Safak“ und andere Regierungsblätter berichteten noch in der Nacht, dass der syrische Kurde Salih Necar (Neccar) der mutmaßliche Selbstmordattentäter gewesen sei. Necar sei als syrischer Flüchtling im Juli des Vorjahres in die Türkei gekommen. Ihm wurden bei der Einreise Fingerabdrücke abgenommen.

Neuesten Informationen zufolge soll sich der Mann bereits seit Juli 2014 in der Türkei befunden haben, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen ranghohen Mitarbeiter der türkischen Sicherheitskräfte.

Die linksnationale Zeitung „Sözcü“ veröffentlichte ebenfalls noch in der Nacht auf ihrer Onlineausgabe das Foto des mutmaßlichen Attentäters. Nach „Sözcü“ zugespielten Informationen war der 24-jährige Attentäter, der 1992 geborene syrische Kurde „Mitglied des syrischen Ablegers der PKK, PYD/YPG“. Wie die Zeitung mit Verweis auf ihre Quelle erklärt, habe die zuständige Polizeibehörde den Attentäter „anhand von Körperteilen und Fingerabdrücken“ identifiziert.

Schnelle Ermittlungsergebnisse

Ähnlich rasch wurde auch der Selbstmordattentäter von Istanbul im Jänner ausfindig gemacht. Bei dem Anschlag im historischen Viertel in Istanbul am 12. Jänner waren elf deutsche Touristen gestorben.

Nur knapp drei Stunden nach dem Anschlag gab der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bekannt, dass der Selbstmordattentäter „syrischer Herkunft“ sei. Auch er war dem türkischem Innenministerium zufolge als Flüchtling registriert worden, inklusive Foto und Fingerabdrücke. Für den Anschlag wurde die Terrormiliz IS verantwortlich gemacht. Diese hat sich nie offiziell dazu bekannt

Die Geschwindigkeit, mit der die Selbstmordattentäter identifiziert wurden, lässt Raum für Spekulationen. So berichtet die regierungskritische Zeitung „Cumhuriyet“ – ihr Chefredakteur sitzt seit Monaten wegen eines Berichts über Waffenlieferungen der Türkei nach Syrien in Haft -, dass Zweifel an der Uninformiertheit der Sicherheitskräfte herrschten. Cumhuriyet spricht von massiven „Sicherheitslücken“.

Angeblich hatte der Geheimdienst MIT, der als äußerst gut informiert gilt, konkrete Hinweise auf Anschlagspläne gegen touristische Ziele im Vorfeld des Istanbuler Anschlags. Ähnliches soll es im Hinblick auf mögliche weitere Ziele wie Militäreinrichtungen in Ankara gegeben haben.

Für „Cumhuriyet“ sind die Verantwortlichen nicht automatisch im PKK-PYD-Lager zu suchen. Die Zeitung führt einen vereitelten Selbstmordanschlag zu Jahresende in Ankara ins Feld.

Damals wurden zwei Jihadisten der IS, Musa Canöz und Adnan Yildirim gefasst, als sie das Gelände des jetzigen Anschlags ausspionierten, mit der Absicht, sich als Selbstmordattenäter in der Silvesternacht in die Luft zu sprengen.

Auch bei dem blutigsten Anschlag in der jüngeren Geschichte, dem Anschlag auf eine Friedensdemonstration, organisiert von linken Gewerkschaften und der prokurdischen Partei HDP in der Hauptstadt Ankara im Oktober des Vorjahres, hat die AKP-Regierung sofort die PKK als Schuldigen benannt.

Damals starben 103 Menschen. Nachdem sich die Beweislage immer mehr in Richtung türkischer IS-Jihadisten verdichtete, rückte die Regierung von ihrer Alleinverantwortung durch die PKK ab und begann von einem Zusammenwirken zwischen der PKK; dem IS, der marxistischen, türkisch-alevitischen Splittergruppe DHKP-C und dem syrischen Geheimdiensts Assads zu phantasieren, siehe hier.

Bürgerkrieg im Südosten

Wohl aber deute die Art des gestrigen Anschlags auf die PKK, schreibt „Cumhuriyet“. Die PKK habe in der Vergangenheit immer wieder Angriffe mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugen auf Polizeistationen und Militärs im Südosten des Landes verübt.

Gründe dafür gäbe es ausreichend. Im Südosten herrscht seit Monaten Bürgerkrieg. In beinahe allen von der kurdischen Oppositionspartei HDP gehaltenen Bezirken herrschen wiederholte Ausgangssperren, zigtausende Bewohner haben ihre Städte verlassen. Hunderte Zivilisten sollen in den abgeriegelten Städten getötet worden sein.

Das Militär und Spezialeinheiten der Polizei gehen mit Scharfschützen und Artilleriebeschuss gegen die Jugendorganisation der PKK, die YDG-H vor, die Barrikaden errichtet und bewaffneten Widerstand leistet. Die Zivilbevölkerung ist dabei zwischen die Fronten geraten. Die Grausamkeit der Spezialeinheiten der Polizei erinnert an die 90er Jahre, als die Paramilitärs der Jitem brutale Morde an Kurden verübten, um deren Widerstand zu brechen.

Auch die syrischen Kurden sind Teil des Feindbildes der AKP-Regierung. Ihr Erstarken durch das Eingreifen der Russen im Syrienkrieg könnte Ankaras Alptraum von einem durchgegängigen Kurdengebiet an seiner Südgrenze zur Realität werden lassen.

Der Korridor für die Versorgung von Rebellengruppen und Jihadisten mit Waffen und Nahrung aus dem Gebiet der Türkei droht zu kollabieren, wenn die Kurden weitere Gebietszugewinne erhalten. Mittlerweile bombardiert die Türkei seit mehr als vier Tagen in Folge die kurdischen Milizen in Syrien rund um Afrin mit Artilleriefeuer, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters.

PKK will mit Anschlag nichts zu tun haben

Die kurdische Partei der Demokratischen Union PYD gilt als die syrische Schwesterpartei der PKK. Die YPG, die syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten, sind der bewaffnete Arm der PYD. Die Organisation kämpft in Syrien gegen den IS. Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK wiederum soll bei den Kämpfen gegen den IS im irakischen Sinjar-Gebirge und bei der Befreiung der Jesiden eine wichtigere Rolle gespielt haben als die Peshmerga, die Kampftruppen der kurdischen Regionalregierung im Nordirak.

Die PKK und die PYD bestreiten jegliche Verbindungen mit dem Anschlag. PKK-Gründungsmitglied und KCK-Chef Cemil Bayik – die KCK ist die zivile Dachorganisation der PKK – erklärte, man wisse nicht, wer das Attentat verübt habe. Bayik spricht aber im selben Atemzug sehr wohl davon, dass der Anschlag eine Racheakt für die Massaker in Kurdistan sein könnte.

Der Co-Vorsitzende der syrischen PYD, Salih Muslim, wies im Telefongespräch mit dem regierungskritischen TV-Sender IMC die Vorwürfe des türkischen Premierministers zurück. Die PYD habe nichts mit dem Selbstmordattentat zu schaffen. „Der Grund für die Anschuldigung ist als Vorbereitung der türkischen Intervention in Syrien zu verstehen.“

Andrea Viyana ist Politikwissenschafterin und Türkeiexpertin.

Unabhängiger Journalist

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