Ukraine: Warum Moskau nicht und nicht einmarschieren will

Weil es weiß, dass daraus ein politisches Desaster erster Klasse entstünde. Die ukrainische Führung hat schon 1991 der Sowjetunion einen Korb gegeben und ihre Nachfolger sind noch weniger heiß drauf, mit den Russen unter einem Dach zu leben – und wenn es nur eine Zollunion wäre. Moskau glaubt offenbar, mit Nadelstichen das Auslangen zu finden und sich an das Ufer des Flusses setzen und auf die Leiche des Kiewer Regimes warten zu können.

Wer das dahinter stehende Kalkül verstehen will, kauft sich ein schlaues Buch. Das muss sich nicht unbedingt mit der heutigen Wirtschaft befassen. Ein historisches Buch wie das vor wenigen Wochen erschienene “The last Empire” von Serhii Plokhy tut es auch. Plokhy_CoverPlokhy, ein ukrainischstämmiger Historiker in Harvard, untersucht darin Ereignisse, die vor 23 Jahren stattfanden.

Er führt das Ende der Sowjetunion darauf zurück, dass die Ukrainer bei dem unitaristischen Imperium wie die Sowjetunion eines war, schlicht nicht mehr mitmachen wollten. Auszüge (eigene Hervorhebung):

“It was the position of the Ukrainian leader backed by the December 1 referendum on the independence of Ukraine that turned out to be crucial in deciding the fate of the Soviet Union. Neither Gorbachev nor Yeltsin imagined a viable Union without Ukraine. It was the second Soviet republic after Russia in population and economic contribution to the Union coffers.”

“The Russian leadership, which was already skeptical about bearing the costs of empire, could be persuaded to do so only together with Ukraine. Besides, as Yeltsin told George Bush on more than one occasion, without the Slavic Ukraine, Russia would be outnumbered and outvoted by the Central Asian republics, most of which, with the notable exception of Kazakhstan, relied on massive subsidies from the Union center.”

Die Folge war, dass die mittelasiatischen Staaten – aber auch die Weißrussen – mehr oder minder höflich zur Tür hinausgebeten und im Vorhof, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten versammelt wurden.

Die ukrainischen Kommunisten waren lange Zeit unverzichbare Juniorpartner der Machtaber gewesen. Diese hatten allerdings nach dem misslungenen Putschversuch im August 1991 von der Sowjetunion nichts mehr wissen wollen. Das Referendum, das zu 70 Prozent für die Unabhängigkeit ausgegangen ist, hatte diese Haltung unumkehrbar gemacht.

Die eine Wurzel der Veränderung war die Umstellung vom (un)demokratischen Zentralismus der Sowjetära auf die demokratische Auswahl der politischen Führer gewesen. (Relativ) freie Wahlen hatten das politische Ende der alten Apparatschiks gebracht. Eine zweite Ursache, schreibt Plokhy, sei aber der Umstand gewesen, dass die Führung in Kiew  sozusagen gar nicht aus stalinistischem Schrot und Korn gewesen sei:

“Leonid Kravchuk, born in interwar Poland, presided over the drive for independence by a republic whose nationalist mobilization was quite similar to that of the Baltic republics. (…) Western Ukraine, annexed by the Soviet Union after the Molotov-Ribbentrop Pact of 1939, was never fully digested by the mighty Soviet Union.”

Es sei eine Ironie der Geschichte, dass die westukrainischen lokalen Eliten zum Sargnagel der Sowjetunion geworden seien. Diese wäre “probably still be around, though without its Baltic provinces, if at Yalta Stalin had accommodated Franklin Roosevelt’s desire to leave the city of Lwów (Lviv) in Poland.”

Nun, das ist eine weitreichende Spekulation, die aber einen wahren Kern hat. In der Brust von wenigstens der Hälfte der heutigen Ukrainer schlägt das Herz des Westens und bei den dort bestimmenden Eliten ist dieses Verhältnis noch wesentlich unausgeglichener. Sie kommen durch die Bank entweder aus der West-/Zentralukraine (Poroschenko, Timoschenko) oder sie stammen aus dem überwiegend antirussischen Judentum (Kolomojsky, Yatseniuk).

Die heutige Waffenbrüderschaft zwischen reichen und mächtigen ukrainischen Juden und antisemitisch-proletarisch-nationalistischen Rechten ist ein bemerkenswertes Phänomen, das ich mir nicht zu erklären traue.

Putin kennt das politische Gesamtbild und weiß, dass eine russische Invasion die heutige prekäre Unterstützung für Poroschenko und Yatseniuk grundlegend verwandeln würde – und zwar in eine verzweifelt-entschlossene. Das müssen selbst jene russischen Nationalisten zur Kenntnis nehmen, die Solschenizyns Traum verwirklichen und ein großes allrussisches, ostslawisches Reich ins Leben rufen wollen. Diese würden aber vielleicht, vielleicht den katastrophalen politischen Fallout in Kauf nehmen, wenn es ihnen nur gelänge, ihr Hauptprojekt in die Tat umzusetzen

Warum “zündelt” Putin dann, wie westliche Journalisten und Poster das zu bezeichnen pflegen (Krim, dosierte Unterstützung für die prorussischen Rebellen)? Warum gibt Putin nicht einfach Ruh’ und findet sich damit ab, “dass er verloren hat’”?

Antwort: Weil er damit die beiden wichtigsten Quellen seiner Macht zum Versiegen brächte: die Unterstützung durch den Sicherheitsapparat, speziell des Militärs, und die absolut überwältigende Zustimmung im Populus. Das Volk würde es Putin nicht verzeihen, würde dieser bis in alle Ewigkeit teilnahms- und tatenlos der Beschießung von Zivilisten, ihrer “Landsleute” in Lugansk und Donezk zusehen – Staatsgrenzen hin oder her.

Die “Lahmarschigkeit” des russischen Führers bringt – neben der kriegsgeilen westichen Presse – heute vor allem zwei Gruppen in Rage: die russischen Nationalisten, die einen “Verrat” wittern; noch mehr erbittert sind aber, zweitens, jene tapferen Häuptlinge in Euroland-Natostan, die sich eine ordentliche russische Invasion wünschen, um endlich auch ordentlich Krieg führen zu dürfen.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass auch die ukrainischen Generäle mit dieser Gruppe sympathisieren. Wer sich derlei wünscht, sollte sein Kommandozelt nicht allzu nahe an den Ereignissen haben. Hugh, ich habe gesprochen.

PS: Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, diesen Blogeintrag “Friedensnobelpreis für Putin!” zu nennen. Das hätte cool geklungen, provoziert und verärgert - und Leute in die Lektüre gelockt, die sich diese Mühe sonst nicht antun würden. Wenn Kissinger und Obama einen solchen Preis kriegen, verdient ihn Putin allemal, finde ich. Aber ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich Wlad den Schrecklichen für Mahatma Gandhi hielte.

 

Unabhängiger Journalist

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.