Warum Großbritannien Mitschuld am Ersten Weltkrieg trägt

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Lord Milner, Kopf der Empire-Verschwörer. Quelle: Wikimedia Commons

Der Mainstream der englischen Historikerzunft plädiert traditionellerweise auf unschuldig: Die Kriegserklärung am 4. August sei für London eine furchtbare Notwendigkeit gewesen. Zwei vor kurzem erschienene Bücher ziehen das in Zweifel. Das erste sieht im Krieg das Werk einer verborgenen Lobby, die spätestens seit den 1880er-Jahren tätig war. Das andere geißelt die Täuschungsmanöver und Unterlassungssünden des ersten Kriegskabinetts.

Hundert Jahre ist es her, seit die Welt in die größte Katastrophe seit ihrem Bestehen gestoßen wurde. Um die Kriegsursachen sind allein seit dem vergangenen Jahr Hunderte Fachbücher erschienen, die heutzutage wenigstens einen großen Vorteil haben: Sie müssen sich nicht (mehr) an Artikel 231 des Versailler Vertrags kümmern, ein politisches Konstrukt, das Deutschland und seinen Verbündeten die Alleinschuld zuwies.

Die meisten zeitgenössischen Historiker sind inzwischen zu recht nuancierten Urteilen gelangt, die oft nur ein Element gemeinsam haben: Der Krieg entstand für sie aus einem komplexen und labilen Kräftefeld, zu dessen Entstehen alle Beteiligten beigetragen haben, das aber keine Seite auch nur annähernd “managen” konnte. Christopher Clarks Opus Magnum  “Die Schlafwandler” ist ein Beispiel für diese Sichtweise.

Gerry Docherty und James MacGregor kommen in ihrem 2013 erschienenen Buch “Hidden History: The Secret Origins of the First World War” zu einer anderen Sichtweise. Die beiden scheinen nichts von komplizierten Kräfteparallelogrammen zu halten. Sie sagen: Nicht das Deutschland Wilhelms II (wie das jahrzehntelang gegolten hatte), sondern ein englisches  Oberschichten-Klüngel hat die Katastrophe zu verantworten. Docherty und MacGregor stimmen damit der schon seit 1907 in Deutschland verbreiteten Einkreisungstheorie zu. Ohne Wenn und Aber.

Die Schotten stützen sich aber nicht auf Aussagen deutscher Politiker und Feldherren, die speziell nach 1919 jedes Motiv hatten, Verantwortung von sich abzuwälzen, sondern auf Fakten und Indizien, die im Lauf der Jahrzehnte ans Tageslicht geschwemmt worden sind. Das ist die größte Stärke dieses Buchs. Seine größte Schwäche ist, dass keine “smoking gun”, kein ultimatives Beweismittel für die Verschwörung präsentiert werden kann. Docherty/Macgregor legen eine neue, alte Erzählweise des Geschehenen vor, wie auch die anderen Darstellungen auf mehr oder weniger belegbaren Erzählweisen beruhen.

Die verborgene  Elite, von der bei ihnen die Rede ist, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der gar nicht so unsichtbaren englischen Oberschicht, die traditionell die Regierungsgeschäfte des Empires führte (und die dabei klarerweise auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse Rücksicht nahm, die ihre Angehörigen – Bankiers, Fabrikanten, Zeitungsleute und Staatsfunktionäre – hatten.) Der amerikanische Historiker Caroll Quigley nennt diese Leute in seinem Text über das Angloamerikanische Establishment “Milner-Gruppe”. Es ist eine Clique, die sich ganz und gar dem britischen Empire verschrieben hatte und zu deren Gründerfiguren Lord Salisbury und Cecil Rhodes, der Minen-Magnat aus Südafrika gehörten. Sowohl Rhodes als auch Salisbury verstarben kurz nach der Jahrhundertwende und zählen in der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs nicht mehr zu den Akteuren.

Doch sie hatten einen charismatischen Nachfolger, Alfred Milner, ein Nachlassverwalter von Rhodes. Milner segnete erst 1925 das Zeitliche. Er erfreute sich in der imperial gesinnten jeunesse dorée starken Zulaufes, aber er hatte mit Ausnahme weniger Jahre kein öffentlich sichtbares Spitzenamt inne. Fir Milner-Leute waren üblicherweise sehr reiche, sehr gut vernetzte und oft auch sehr fähige Privatleute und Beamte, die es vorzogen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen.

Das finanzielle Fundament waren die organisch entstandenen, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg erworbenen familiären Vermögen. Dazu kamen Stiftungen und enorme Hinterlassenschaften wie jene von Rhodes. Auch Nathan Mayer (“Natty”) Rothschild, ein enger Geschäftsfreund von Rhodes, wird der Gruppe zugerechnet.

“Diese Geheimgesellschaft”, schreibt Quigly, “ist kein Kinderkram wie der Ku Klux Klan und sie hat keine Geheimgewänder, Handzeichen oder Passwörter. Sie braucht das auch nicht, weil sich ihre Mitglieder gut kennen.”

Die Gruppe sei irgendwann zur Überzeugung gelangt, dass ihre Geschäfte und die Existenz des Empire am stärksten aus Berlin bedroht werde, glauben Docherty und MacGregor. Deswegen habe man über eine sehr langfristige Politik die Isolierung und Vernichtung Deutschlands verfolgt.

Das Milner-Klüngel war in den entscheidenden Jahren aber nicht selbst an der Regierung wie das in den “guten alten Zeiten” davor der Fall gewesen war, als Salisbury den Premier gegeben hatte. Über ihre Vertrauensleute im In- und Ausland war sie dennoch besser informiert und jedenfalls handlungsfähiger als die Regierungen in London – bespielsweise die liberalen ab 1906, die dem Milner-Klüngel eigentlich nicht wohlgesinnt hätten sein dürfen.

Doch trotz etlicher “radikaler” und populistischer Elemente in den Whig-Kabinetten behielten die alten Mächte die Zügel in Außen- und Rüstungspolitik in der Hand. Gegen alle Widerstande gelang es ihnen, intensive Vorbereitungen für eine militärische Konfrontation mit Empire-Anwärter Deutschland durchsetzen. Das ultimative Ziel war ein Vernichtungskrieg gegen den wirtschaftlich rasch aufholenden Rivalen.

Dass die Tories nicht mehr die Regierung stellten, war für die Milneristas kein Problem. Wie sich bald herausstellte, konnten die Liberalen (und später die Sozialisten) bestimmte aristokratische und großbürgerliche Interessen mindestens genausogut bedienen.

Der sogenannte Cecil-Block habe ursprünglich fast ausschließlich aus Konservativen und Unionisten bestanden, schreibt Quigley. “Die wichtigsten Ausnahmen waren die vier Führungsfiguren der liberalen Partei, die starke Imperialisten waren: Roseberry, Asquith, Edward Grey und Haldane. Alle vier waren für den Burenkrieg, wurden immer antideutscher, sie unterstützten den Weltkrieg 1914 und standen politisch, intellektuell und sozial der Milner-Gruppe nahe.”

Um sicherzugehen, wurde der neuen Außenminister Edward Grey, eine eigentlich mittelmäßige Figur, die von Anfang an zwischen (der Milner-Gruppe) loyale Spitzenbeamte/Unterstaatssekretäre eingebettet wurde (Baron Hardinge). Und Radikale wie der junge Lloyd George konnten über ihre persönlichen Schwächen eingefangen und kontrolliert werden (diesfalls Sex-Affären).

Die Asquith-Regierungen haben mit Franzosen und Russen den Krieg gegen die Achsenmächte vorbereitet, konnten nach außen aber den Anschein wahren; den Anschein, weiter freie Hand zu haben und keine unbedingten Bündnisverpflichtungen gegenüber den Entente-Ländern eingegangen zu sein.

Besonders heikel war das Verhältnis zum Zarenreich, das von der Basis des Asquith-Kabinetts, den liberalen Unterhausparlamentariern verabscheut wurde. Nicht einmal unter den Ministern war ein Kurs wie der von Grey mehrheitsfähig (weswegen der Kriegseintritt zu einer Regierungskrise führte). Sir Grey “löste” dieses Problem dadurch, dass  er eine Außenpolitik auf  Basis von ständiger Verdunkelung und Disinformation führte.

Den Sachen-Coburgs/Windsors – also Edward VII und George V – sagte die Politik der Milner-Gruppe zu. Und weil sie enge Verwandte der russischen Zarenfamilie waren, erstreckte sich der Einfluss der Londoner Kriegspartei bis tief in die russische Regierung. Der Außenminister und spätere Botschafter des Zaren in Paris, Alexander Iswolski, war ein Vertrauensmann der Milnergruppe, behaupten Docherty und MacGregor. Iswolski sei nur durch die Protektion aus England die Petersburger Karriereleiter hinaufgefallen und habe, ursprünglich bankrott, binnen kürzerster Zeit persönlich Reichtum erworben. Über Iswolski und seinen Nachfolger im Außenministerium hätten die Engländer Informationen über und Einfluss auf das Agieren panslawistischer Kreise – und damit auf die Attentäter von Sarajewo gehabt:

“Die wachsenden nationalen Ressentiments, die sich gegen die Türkei und Österreich-Ungarn richteten, wurden durch Agenten der britischen heimlichen Elite angestachelt (…) Serbien kam eine besondere Rolle zu. Seine Lage war perfekt, um als Epizentrum für ein Beben zu fungieren, das die alte Ordnung hinwegfegen würde.”

Die laufenden Balkankrisen hätten aus dieser Perspektive “nur einen Zweck gehabt: Österreich mit einer schweren Provokation zum Reagieren zu bringen und dadurch Deutschland in den Konflikt zu ziehen. Es ging dabei nicht um Österreich, es ging immer um Deutschland.”

In der Darstellung von Docherty und MacGregor agierte Berlin in den Krisen vor 1914 durch die Bank deeskalierend/defensiv; der Beitrag Berlins zur Kriegsentstehung im Juli/August 1914 habe darin bestanden, Wien nicht früher den Wind aus den Segeln genommen und es zu Verhandlungen mit Russland zu gezwungen zu haben (wie?). An der unhaltbaren geostrategischen Lage, in der sich die Deutschen zu diesem Zeitpunkt bereits befanden, hätten diese selbst keinen (schuldhaften) Anteil gehabt.

Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was an den Schulen gelehrt wird was auch in der deutschen Historikerzunft seit 50 Jahren als wissenschaftlicher Konsens und gesicherte Perspektive gilt (spätestens seit dem Erscheinen von Fritz Fischers “Griff nach der Weltmacht”).

Docherty und MacGregor stehen mit ihrer Kernthese vor ähnlichen Problemen wie ihre Kollegen aus dem wissenschaftlichen Establishment. Es gibt keine sozusagen unzweideutigen Archivfunde über die Beziehungen der Akteure zur Milner-Gruppe. Das rührt unter anderem daher, dass private Archive nicht zur Verfügung standen und dass staatliche Akten über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs in vielen beteiligten Ländern in in großer Zahl verschwunden sind; sie gingen nach dem Krieg “einfach verloren” – selbst in politisch stabilen Ländern – oder sie wurden von zufällig ausgebrochenen Feuern vernichtet. Die besten Archivalien drangen noch aus jenen jenen Gebieten, in denen eine Revolution stattgefunden hatte und wo die politischen Eliten ausgetauscht worden waren (Sowjetunion, Österreich).

Die “Hidden History” erschien im amerikanischen Buchverlag Random House, der Bertelsmann gehört. Es ist in Mitteleuropa auch in seiner elektronischen Ausgabe nur schwer zu erwerben. Will man es z.B. von Österreich aus herunterladen, erscheint folgende Benachrichtigung: “Dieser Titel kann von ihrem Standort aus von dieser Website derzeit nicht erworben werden.”

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Es ist wohl kein Zufall, dass dieses Buch von zwei Schotten geschrieben wurde, die Außenseiter des Wissenschaftsbetriebs waren und sind.

Douglas Newton, der Verfasser des zweiten Buchs, ist kein akademischer Außenseiter, aber er kommt auch nicht aus England. Er stammt aus Australien. Seine soeben erschienen “Dunkelsten Tage” beschreiben die Ereignisse, die sich in der Woche vor der britischen Kriegserklärung an Deutschland zugetragen haben. Er folgt im großen und ganzen den Prämissen des Mainstreams der Berufshistoriker, bezweifelt aber, dass das Königreich Mitte 1914 keine andere Wahl gehabt hat als in den Krieg einzutreten. Großbritannien war sozusagen zwar erst die Nummer fünf oder sechs der Eskalationskette, aber es war entscheidend dafür, dass aus dem europäischen Krieg ein Weltkrieg wurde.

Newton konzentriert sich auf jene Vorgänge Mitte 1914, mit denen es die “Kriegspartei” in der Regierung es schaffte, ihren Willen durchzusetzen. “Die Minderheit der Interventionisten im Kabinett bugsierte die neutralistische Mehrheit am 2. August (faktisch) in den Kriegszustand, indem es Frankreich die Unterstützung durch seine Marine zusicherte. Diese Zusage hat Britannien in den Krieg verwickelt bevor das deutsche Ultimatum an Belgien noch erfolgt war.”

“Während der Krise gingen die Entente-Befwürworter im Kabinett manipulativ und mit Täuschungen vor. Wesentliche Entscheidungen (…) fielen außerhalb des Kabinetts. Es gab keine demokratische Entscheidung für einen Krieg.” (Im Unterhaus fand niemals eine Abstimmung darüber statt.)

Asquith/Grey ist von anderer Seite u.a.angelastet worden, dass sie entweder

  • zu wenig deutlich gemacht hätten, dass Britannien an Seite der Entente in den Krieg eintreten werde. Sie hätten damit eine Chance verrtan, Deutschland und Österreich-Ungarn abzuschrecken. Oder dass sie
  • nicht die Neutralitätskarte gezogen und damit Russland und Frankreich unter Druck gesetzt hätten. Beide Vorwürfe tönt der US-Historiker Sidney Fay, den man “vorauseilend revisionistisch” nennen könnte, bereits 1928 an. In Fays Augen trägt London aber keine besondere Mitschuld am Kriegsausbruch.

Was immer die Engländer damals an Chancen vergeben haben mögen – aus den bis heute zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass Whitehall aktiv auf einen  Kriegsausbruch hingearbeitet hätte. Asquith und Grey mögen (auf offener Bühne) zweideutig und zögerlich gehandelt und vielleicht nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben – aber auf Basis der bisher vorliegenden Dokumente entsteht nicht den Eindruck, dass sie als Brandbeschleuniger agiert hätten.

Derlei freilich kann ebensogut über Kaiser Wilhelm und seinen Kanzler Bethmann Hollweg gesagt werden.

Gleichwohl hat es – siehe Fischer und Docherty/MacGregor – sowohl in England als auch im deutschen Kaiserreich im Hintergrund agierende, mächtige Gruppen gegeben, die einen Krieg anstrebten. Die einen, um Deutschland zur Hegemonialmacht auf dem Kontinent zu machen und ein größeres Kolonialreich zu schmieden. Und die anderen, um sich einen aufstrebenden Imperiums-Rivalen sowie wirtschaftliche Wettbewerber vom Hals zu schaffen.

Der Kriegspartei in England haben Asquith, Haldane, Churchill, Grey und Llloyd George in die Hand gearbeitet: über ihre massive Aufrüstung, die Pläne zur wirtschaftlichen Strangulierung Deutschlands mithilfe der Navy, die Schaffung eines Expeditionscorps, über die gemeinsamen Marinemanöver und heimlichen Garantien an Frankreich, über tätige Mithilfe bei der Korrumpierung der belgischen Neutralität sowie ganz allgemein über den gar nicht so defensiven Charakter der Triple Entente.

Deren Anfänge liegen im Schatten eines “Familientreffens” zwischen den britischen und russischen Royals 1907. Die dabei geschlossene britisch-russische Konvention faußte auf einem Interessenausgleich der Mächte im Bereich des heutigen Iran/Irak, aber auch auf den nur in Umrissen fassbaren Zusagen über die Anerkennung einer allfälligen russischen Eroberung Istanbuls/des Bosporus.

So – könnte man achselzuckend erklären – , wird halt die Außenpolitik liberaler Imperialisten wie von Asquith und Grey gestaltet: So sind sie und so bleiben sie. Man kann aber auch – wie Docherty und MacGregor – sagen: Diese Politiker haben die Vorgaben eines mächtigen Klüngels erfüllt, das eine konkurrierende Macht um jeden Preis vernichten wollte, auch um den eines Weltkriegs.

Anders als heute konnte dies damals nur langsam erfolgen, sozusagen Schritt für Schritt; so wie dies der Chef des britischen Marinegeheimdiensts beschrieben hat, als er sagte, dass die Deutschen mithilfe der britischen Flotte “kleingemahlen” werden müssten, – “bis das Gras auf Hamburgs Straßen wächst”. (Hidden History, Kapitel 9) Die damit gemeinte Seeblockade war freilich nur in/nach einem heißen Krieg durchführbar.

Literatur:

Gerry Docherty, Jim Macgregor, Hidden History. The secret Origins of the First World War. 2013

Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914. 2013

Douglas Newton, The Darkest Days: The Truth behind Britains Rush to War 1914. 2014

Sidney Fay, Origins of the World War, 1928

Caroll Quigley, The Angloamerican Establishment. 1981

Foto: Henry Walter Barnett, Wikimedia Commons.

Unabhängiger Journalist

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