Verpasster Sino-Kapitalismus? Von Marco Polo zu Christoph Columbus

Zwischen 1300 und 1500 hat sich das Schicksal Europas, Chinas und der Welt entscheidend gewendet. Es waren die beiden formativen Jahrhunderte vor der neuzeitlichen “europäischen Explosion” und dem “Kapitalismus”;1024px-Caravane_Marco_Polo eine Epoche, in der sich China, das eigentlich bessere Voraussetzungen gehabt hätte, kolonialistisch bzw. kapitalistisch zu “explodieren”, in sich selbst verkrochen hat. Fast scheint’s als wäre die heutige One Belt, One Road-Initiative der Versuch, nach 600 Jahren “einen neuen Anlauf zu nehmen”.

Dieses “topaktuelle Posting” geht auf eine Lehrveranstaltung zurück, die Themen aufgerührt hat, die üblicherweise ohne besondere Konsequenzen im Hinterkopf dieses Bloggers herum geistern.

Textliche Grundlagen besagten Seminars waren der berühmte Bericht des Marco Polo über seine Reise nach China (1271 – 1295) sowie das Logbuch der ersten Amerika-Reise des Christoph Columbus (1492).

Das China des nicht ganz verlässlichen Reports Marco Polos zeigt eine zivilisatorisch und sozial beispiellos hoch entwickelte Despotie – und die Seefahrt des Genuesen markiert den Startschuss für unser  europäisch und transatlantisch bestimmtes Weltsystem.

Ein von den Chinesen eingefädeltes alternatives, eurasisches Weltsystem scheint im Spätmittelalter zwar in Griffweite – fand real aber nicht statt.

Kohle, Eisen & Garn

“Throughout this province there is found a sort of black stone, which they dig out of the mountains, where it runs in veins. When lighted, it burns like charcoal, and retains the fire much better than wood; insomuch that it may be preserved during the night, and in the morning be found still burning.” Marco Polo, 2. Band, Kap. 23

So schildert der Venezianer den Gebrauch der Steinkohle in China  – während brennende schwarze Steine daheim ungefähr so glaubwürdig waren wie die ebenfalls ewähnten 10 Pfund schweren Birnen

(die es übrigens auch gegeben hat – nur waren es halt keine Birnen).

In Europa kannte man damals Kohle lediglich als Holzkohle, die für die Herstellung von Eisen benötigt wurde. Einfaches Holz hätte dafür nicht genug Hitze entwickelt.

Im Reich der Mitte war Steinkohle dagegen schon seit Jahrtausenden bekannt – doch die Produktion wuchs erst ab dem 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung so richtig, und zwar (eigene Übersetzung),

in Nordchina, in den heutigen Provinzen Schanxi, Schaanxi, Henan und Jiangsu” (Needham, Science and Civilisation V/13, p. 195 f.)

Mit der Kohle wurde nicht nur in Hunderttausenden Haushalten geheizt, sie war zunehmend auch die Energiequelle für die Metallurgie z.B. in Kaifeng, der Hauptstadt der Song-Dynastie (die die Vorläufer des von Marco Polo besuchten Mongolenherrschers Kublai Khan stellte).

Es ist klar, dass in der Song-Zeit (Stein-)Kohle und Koks eine wichtige Rolle beim Schmelzen von Eisen zu spielen begannen, obwohl wir keine Evidenz haben, wie wichtig”,

schreibt Needham.

Sehr wichtig, antwortet zehn Jahre später der englische Historiker Ian Morris. Ohne Steinkohle hätten die Song-Kaiser nämlich ihre Waffenindustrie nicht aufrecht erhalten können.

Es gab in Nordchina einfach nicht genug Wald, um Millionen Menschen mit Nahrung und Wärme zu versorgen und zugleich Gießereien zu unterhalten, die tausende Tonnen Eisen ausstießen. Da blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Menschen und/oder die Industrien würden abwandern – oder es würden sich ganz neue Brennstoffquellen finden.” (Morris, Wer regiert die Welt?)

Aber auch ein anderer Sektor, der sich in Europa als Motor der Industrialisierung erweisen sollte, war im mittelalterlichen China technologisch weit entwickelt – die Textilpoduktion.

Ein britischer Autor vergleicht etwa eine im 14. Jahrhundert konstruierte Haspelmaschine für Hanf mit einer im 18. Jahrhundert in Frankreich konstruierten (für Flachs) und urteilt:

Wenn diese Veränderungen ein bisschen weiterverfolgt worden wären, hätte das mittelalterliche China bei Textilien eine echte industrielle Revolution gehabt, 400 Jahre vor dem Westen.” (Elvin, 198)

Korrekt,wenn die alten Chinesen den Riemenantrieb ihrer Textilmaschinen mit Bewegungsenergie aus z.B. einer Dampfmaschine zum Laufen hätten bringen können.

Das nämlich war das zentrale Geheimnis, das innere Sanktum des industriellen Produktionsweise des 18. und 19. Jahrhunderts –

und es tut wenig zur Sache, wenn in Song-China Krethi und Plethi Steinkohle zum Heizen von Wohnräumen und Wasser verwendet haben.    :mrgreen:   

Das Verschwinden von Chinas Flotte

Ähnlich knapp (oder eben nicht) scheint China im 15. Jahrhundert an der Hochseeschifffahrt vorbeigeschrammt zu sein.

Zumindest drängt sich der Eindruck auf,wenn man beispielsweise über die Flotte des Zheng He liest, die “die Meere regierte” und die nach Darstellung eines britischen Autors sogar “Amerika entdeckt” hat  – 70 Jahre vor Columbus.

Diese Behauptung haben die Fachhistoriker gewogen und überwiegend verworfen - aber Menzies Geschichte über 1421 scheint gar nicht so unplausibel, lässt man die Schiffe des Admirals vor dem geistigen Auge vorbeisegeln – Ungetüme von bis zu 120 Metern Länge und mit vier Decks.

Auf der Suche nach politischen Feinden des Kaisers, nach Piraten und Handelspartnern drangen die chinesischen Seeleute bis nach Afrika vor, hielten sich aber offenbar immer in Küstennähe.

Eine Entdeckung Amerikas oder gar ein “Rennen um die neue Welt” wäre, davon abgesehen, durch den Umstand wesentlich erschwert worden, dass der Seeweg an die amerikanische Westküste doppelt so lang gewesen wäre als jener über den Atlantik (Morris, Abb. 8.10).

Aber diese Frage stellte sich ohnedies nicht ernsthaft. Ab 1424 unterbanden die Kaiser Honxi und Xuande die kostspieligen Seefahrten. 

Wenn man schon “in der Mitte der Welt” saß – so mochten sie denken -, gab es keinen gesteigerten Bedarf, allzuviel in die Schiffahrt zu den Randzonen zu stecken.    :mrgreen:

Das Risikokapital der europäischen Kronen

Die kastilischen, portugiesischen und englischen Könige dachten um 1500 anders.

Sie rissen sich förmlich darum, die Columbusse, Amerigo Vespuccis und John Cabots mit “Wagniskapital” auszustatten.

Jede dieser Expeditionen war ein riskanter Gamble – doch die europäischen Herrscher hatten Glück und gewannen in großem Maßstab Gold, Land und Prestige – wenn nicht für sich selbst und gleich, dann indirekt, 200 Jahre später.

Es waren fürstliche Entscheidungen, bei denen freilich die wirtschaftlichen und politischen Zyklen, die Seuchen, der Klimawandel und sogar Sonnenflecken der vergangenen beiden Jahrhunderte mitgespielt haben, bewusst oder nicht.

Literatur:

Bruce M.S. Campbell, The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late Medieval World. 2016

Mark Elvin, The Pattern of the Chinese Past. 1973

Louise Levathes, When China ruled the Seas. The Treasure Fleet of the Dragon Throne, 1405 – 1433. 1997

Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. 2010

Joseph Needham, Donald B. Wagner, Science and Civilisation in China, Vol. V, Part 11: Ferrous Metallurgy. 2008

Bild: Abraham Cresques, Atlas catalan (Scanné de Coureurs des mers, Poivre d’Arvor.) [Public domain, PD-1923], via Wikimedia Commons

Unabhängiger Journalist

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