Richard Thaler, “Vater” der Verhaltensökonomie, hat den Nobelpreis für Wirtschaft gekriegt und unsere Journos, die eigentlich dafür bezahlt werden, solche Informationen mit wachem Geist aufzubereiten, werden nicht müde, den Mann sympathisch zu machen. Dabei lassen sich solche Typen z.B. mit Atomwissenschaftern vergleichen, die die Grundlagen für von anderen entwickelte Massenvernichtungswaffen erforschen.
Das ist insoferne ein drastischer Vergleich, als die Tätigkeit von Letzteren auf die Vertilgung von Millionen in Sekundenbruchteilen hinausläuft und die von Verhaltensökonomen “nur” auf das Ausnutzen von menschlichen Schwächen in Zeiträumen von Jahren und Jahrzehnten.
Dazu kommt, dass – wie bei einem im Wasser schwimmenden Eisberg – wohl neun Zehntel der von den behavioral sciences inspirierten Forschung nicht öffentlich zugänglich sind und als intellektuelles Eigentum eifersüchtig bewacht werden.
Von denselben Firmen, die im Supermarkt Sonderangebote vorspiegeln, um ihre Kunden zu verleiten zu überteuerten Waren zu greifen.
Auch bei “demokratischen” Regierungen und politischen Parteien steht heute verhaltenswissenschaftlich fundierte Rosstäuscherei hoch im Kurs.
Das alles ist ein extrem weites Feld, von dem höchstens Menschen eine vage Ahnung haben, die beruflich in Marketing & Sales tätig sind.
Der wohl bekannteste Anküpfungspunkt für diesen Wissenschaftszweig findet sich in einem Experiment des frühen Behaviorismus, dem Pawlowschen Hund.
Dieses vor mehr als 100 Jahren ausgeführte Experiment ist jedem und jeder aus der Schule bekannt.
Es zeigte, dass man Hunde trainieren kann Futter zu erwarten, sobald ein Klingelton erfolgt (der Urheber des Experiments wurde übrigens auch mit einem Nobelpreis ausgezeichnet).
Man nennt das klassische Konditionierung.
Heute ist 112 Jahre später und die aus diesem Stamm wachsenden Wissenschaften haben sich vervielfacht, ebenso wie die Zahl der öffentlichen und privaten Interessenten und die zur Verfügung stehenden akademisch ausgebildeten Psychologen (es sind übrigens Deine und meine Söhne, Töchter, Neffen und Nichten).
Auch in der Forschung hat sich in den vergangenen 100 Jahren einiges verändert.
Interessant sind nicht mehr die Hunde, denn diese sind weder Konsumenten, noch gehen sie wählen oder zahlen Steuern.
Von Interesse sind heute primär die Menschen.
Auch geht es nicht mehr nur ums Dressieren, sondern darum, vorfindliche Unzulänglichkeiten und Fehler für kommerzielle oder politische Ziele zu verwerten.
Das braucht freilich eine Menge empirische Forschung – und die Grundlagen für diese liefern Wissenschafter wie Richard Thaler und Cass Sunstein.
Ihr Ausgangspunkt ist:
“Normale Menschen” tendieren dazu, träge zu sein und Veränderungen zu scheuen, Arbeit auf die lange Bank zu schieben und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.
Sie wollen nicht aus der Reihe tanzen, sie lesen nur flüchtig und unvollständig, und verstehen dabei vieles nicht. Sie sind anfällig für Wahrnehmungsfehler, vergesslich und haben traditionelle Vorstellungen von Fairness, die sich nicht unbedingt mit jenen der movers and shakers decken.
Undsoweiter, undsofort.
Die Schwarze Magie der menschlichen Fehler
Bei manchen dieser Dinge handelt es sich um moralisch verwerfliche Charakterfehler, manche kann man als Schwächen bezeichnen und wieder andere fallen nur unter die Rubrik Gewohnheiten. Manchmal geht es sogar um “gute Eigenschaften”.
Was immer es sein mag – es ist den Wissenschaftern und deren Auftraggebern eigentlich egal, solang es sich eignet, Wasser auf die eigenen Mühlen zu leiten.
Das verspricht schnellere Erfolge als zum Beispiel “Neu- bzw. Umdressieren”, was sehr aufwendig und praktisch oft nicht möglich ist.
Unsere Vordenker werden nun nicht für die Abgründe ihres Gewerbes, sondern ausschließlich für dessen präsentable Seiten ausgezeichnet, sozusagen für dessen weiße Magie.
In diesem Zusammenhang hat der Begriff Nudging Karriere gemacht, der soviel wie anstoßen, schubsen bedeutet.
Im öffentlichen Bereich bezeichnet er eine Praxis, mit der die Regierung erwünschtes Verhalten zu erzeugen versucht – ohne (sichtbare) Vorschriften oder eine großmächtige Ahndung von Gesetzesverstößen.
Dabei geht es darum, die Leute zum Nichtrauchen, Gesünderessen oder Langsamerfahren zu bringen und sie z.B.vom Schuldenmachen abzuhalten.
Auch Private haben oft nur Interesse, Konsumenten den richtigen Gebrauch ihrer Produkte nahe zu legen; z.B. wenn Hersteller von Antibaby-Pillen Packungen mit 28 Taletten ausgeben, von denen sieben reines Placebo sind.
Es ist für die Nutzerinnen einfacher, jeden Tag die Pille zu nehmen als einmal pro Monat eine Woche lang auszusetzen und danach wieder mit der Einnahme zu beginnen.
Regierungen interessieren sich mitunter auch dafür, Unternehmen gewisse üble Praktiken auszutreiben, u.a. durch oligatorische Offenlegungen oder verpflichtende Benachrichtigungen etwa bei Zinsänderungen.
Es gibt etliche sozial akzeptierte Anwendungen der Verhaltenswissenschaften und diese werden in den Büchern der Vordenker bereitwillig vorgeführt.
Dabei könnte man auf die Idee verfallen, dass der Libertäre Paternalismus, den sich Thaler & Co. auf die Fahnen schreiben, schon die ganze Geschichte ist.
Solch wohlmeinende Gängelung ist aber nur ein Teil der Geschichte – manchmal nicht mehr als eine PR-Fassade.
Wenn sich beispielsweise die EU für Nudging interessiert, deutet das vielleicht auf etwas hin, was man im Schönsprech der Kommission behaviorally informed decisions nennt.
Dann geht es vielleicht um regulatorisches Interesse – oder um die Frage, wie sich der (größtenteils korrekte) Eindruck zerstreuen lässt, die Kommission sei ein vorschriftenproduzierendes Bürokratie-Monster.
Das alles passiert natürlich mit wissenschaftlichen Mitteln.
Und wenn sich politische Parteien für die psychologischen Grundlagen von Dirty Campaigning interessieren, dann möglicherweise, weil sie Opfer von Schmutzkübelkampagnen geworden sind – oder aber, weil selbst welche auf die Beine stellen möchten.
Monetäre Behörden und behavioral economics
In diesem Zusammenhang ist auch der Gebrauch von behavioral economics (finance) durch Zentralbanken von Interesse.
Dazu weiß man offiziell nur, dass dieses Interesse außerordentlich hoch ist – doch nicht einmal die Titel konkreter Forschungsprojekte werden publik gemacht.
Es liegt aber auf der Hand, dass es den Notenbankern speziell um zwei Gruppen bzw. um die Verwertung von deren “Anlegerverhalten” geht:
Um jenes der professionellen Geldmanager, wobei deren berufliche Vorgaben im Vordergrund stehen (kurzfristige Renditeorientierung).
Und um jenes der breiten Öffentlichkeit, der “normalen Einkommensbezieher und Geldnutzer”.
Dort sind nicht so sehr die Quartalserfolge Punkte, an denen man ansetzen kann.
Dort geht es primär um die Angst, Verluste zu erleiden bzw. um die oft jahrzehntelang erarbeiteten Ersparnisse gebracht zu werden.
Dort will man die Leute dazu bewegen, ihre Ressourcen wieder in den Wirtschaftskreislauf fließen zu lassen ( = auszugeben) oder wenigstens, diese nicht aus dem Finanzsystem abzuziehen, wenn es keine Zinsen gibt.
Eine knifflige Angelegenheit.
Das Bemühen steht jedenfalls in diametralem Gegensatz zu einer weithin pulizierten “weißen” Anwendung der behavioral economics – wie man nämlich Angestellte dazu bringt, für ihr Alter zu sparen.
Konkret: aktiv und umfassend von angebotenen Firmenpensionen Gebrauch zu machen. Hierzu pflegen sich Thaler und Sunstein ausgiebigst zu verbreitern (“Save more Tomorrow”).
Bild: Chatham House, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Literatur:
Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness. 2008
Cass R. Sunstein, Ethics of Influence. Government in the Age of Behavioral Science. 2016
Anne-Lise Alemanno Alberto Sibony, Nudge and the Law. A European Perspective. 2017
Tim Richards, Investing Psychology. The Effects of Behavioral Finance on Investment and Choice Bias. 2014
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