Welcher Populismus ? Zweiter Teil: Die Stimmenfänger von Athen

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Andreas Papandreou, 1968

Sozialistische und christdemokratische Akteure haben – über den Zeitraum einer Generation – den griechischen Staat in den Bankrott geführt: Populisten im Schafspelz demokratischer Politiker. Sie agierten im eigenen Interesse, aber auch zum Vorteil einer großen Zahl unterschiedlicher Wählergruppen, die hoffen konnten, aus ihrem Stimmverhalten persönliche Vorteile zu ziehen. Angeblich konnte fast jeder einmal von dieser speziellen Tragödie der Gemeinwirtschaft profitieren.

Takis S. Pappas hat vor einem Jahr ein Buch veröffentlicht, in dem er die Vorgeschichte der griechischen Staatspleite seit dem Ende der “Obristendiktatur” 1974 erzählt. Darin macht der Autor Schluss mit allen möglichen Mythen – unter anderem jenem,  dass der europäische Populismus ein Phänomen randständiger Parteien sei, die nichts mit unseren Volksparteien zu tun haben.

Seine Analyse zeigt auch, dass der Stimmenkauf der hellenischen Politiker just zu dem Zeitpunkt begonnen hat, an dem Griechenland der EG beigetreten ist und wie die europäischen Regionalförderungen den populistischen Regierungen geholfen haben, dieses ihr Politikmodell aufrechtzuerhalten.

An manchen seiner Urteile lässt sich herumnörgeln, beispielsweise an der Heroisierung Konstantin Karamanlis’ und der blauäugigen Haltung gegenüber Institutionen angeblicher liberaler Demokratien, die faires und unparteiisches Agieren zugunsten des Gemeinwohls garantieren sollen. Das ist reine Theorie, unglücklicherweise.

In ihren Hauptergebnissen ist die Analyse aber wertvoll, systematisiert sie doch zahlreiche Phänomene, die erst nach dem Ausbruch der Krise 2009/10 bekannt geworden sind und deren Beschreibung teilweise nur in griechischer Sprache vorliegt.

Umso interessanter ist der Schwenk, den der Autor seit Erscheinen seines Buchs 2014 vollzogen hat. Im Fokus seines Interesses steht jetzt nicht mehr der Populismus von moderaten Massenparteien, sondern die Gefahr, die von ebensolchen Gruppen außerhalb des Verfassungsbogens ausgeht (wie das ein früherer ÖVP-Politiker ausgedrückt hätte).

PASOK und Nea Dimokratia haben demnach Mitte 2012, mit dem Beginn ihrer Regierungszusammenarbeit, Religion angenommen und sich gewissermaßen über Nacht in verantwortungsbewusste Parteien verwandelt.

Pappas_Cover
Cover von Pappas’ Populismus-Buch

Pappas Populismusbegriff hat sich damit der in Academia und Kommentariat grassierenden einseitigen Konzeption angenähert. Sein Augenmerk liegt nicht mehr auf wirklichem Stimmenkauf und realer Kürzestfrist-Orientierung in echten Regierungen, sondern auf dem erwarteten Regierungsverhalten illiberaler Bewegungen außerhalb  des approbierten Parteienspektrums. Also: PASOK und Nea Dimokratia sind neuerdings hui-liberal, Syriza und ANEL pfui-populistisch.

Man kann nur spekulieren, welche Motive zu einer solch abrupten Rekalibrierung geführt haben. Ich will mich nicht in Ratereien ergehen. Das Verdienst, das sich Populism and Crisis Politics in Greece erworben hat, wird davon nicht geschmälert.

Das goldene Zeitalter der modernen griechischen Politik begann nach dem jähen Fall der Milkitärdiktatur, als ein konservativer Politiker aus dem selbstgewählten Exil nach Griechenland zurückkehrte und demokratische Institutionen aufzubauen begann. Und die sich über 30 Jahre hinziehende Höllenfahrt des Landes begann sieben Jahre später mit der Wahl von Andreas Papandreou, einem lederbejackten Hetzer, zum Regierungschef.

So würde man beginnen, wollte man die 2014 auf Englisch vorgelegte Pappas-Analyse ironisieren, aber die Motive sie zu loben, sind weitaus zahlreicher. Pappas beschreibt den Unterfall einer populistischen Demokratie, die sich auf Basis eines Zweiparteiensystems entwickelt hat (was theoretisch eigentlich gar nicht stattfinden hätte dürfen).

Es ist ein chronisch reformunfähiges politisches System, das auf der schonungslosen Ausbeutung staatlicher Ressourcen durch die politische Klasse, aber auch durch die Bevölkerung beruht. Ein System, das auf Patronage fußt, der Verteilung öffentlicher Güter an bevorzugte Wählergruppen. Die politische Rotation der Regierungen stellte sicher, dass fast jede Bevölkerungsgruppe erwarten konnte, irgendwann einmal zum Zug zu kommen.

Das üble Spiel angefangen hat nach Pappas Darstellung die inzwischen zur Fünfprozentpartei verkümmerte PASOK unter anderem über

  • die Aufblähung des Staatsapparats  um 50 Prozent binnen zehn Jahren
  • die großzügige Verteilung von Pensionsversprechungen und die
  • Liebedienerei gegenüber bestimmten Gewerkschaften.

Das beschreibt aber nur einen Teil des Problems. Der Stimmenkauf passierte nicht nur über Zusicherung realer Einkommen für die eigene Kern-Klientel, sondern auch über zwei andere Mechanismen – siehe unten.

Die Konservativen versuchten nach dieser Darstellung im Sinn liberaler Ziele zunächst dagegenzuhalten. Sie hätten in den 1990er-Jahren aber einen Schwenk vollzogen, weil sie zur Ansicht gekommen wären, dass das eine Verlierer-Strategie wäre. Seither hätten sie versucht, die PASOK mit Versprechen zu überbieten (nach dem Motto: “Ich biete 150.000 Drachmen Mindestpension !” “Ich biete 152.000 !”)

Nicht nur die klassische PASOK-Kundschaft konnte profitieren. Der griechische Populismus war insofern demokratisch-egalitär als auch Nicht-Kleinbauern und Nicht-Arbeiter mal rangelassen wurden. Beispielsweise durch das Aufrechterhalten des gewerberechtlichen Schutzes für zehn Dutzend Berufsgruppen – vom Rechtsanwalt bis zum Taxifahrer. Das war für den Staatssäckel relativ billig.

Die dritte Form des Stimmenkaufs erfolgte durch das Straflosstellen illegaler oder “grauer” Praktiken – vom Hausbau auf öffentlichem Grund über den Sozialbetrug bei Transfergeldern bis hin zur Duldung von Steuerhinterziehung. Die Verstöße blieben zwar verboten, wurden aber nicht geahndet. Für die Begünstigten war’s ein und dasselbe.

Die Voraussetzungen für dieses System beschreibt Pappas folgendermaßen (Populism, S.8):

(…) Das wiederum erforderte zwei Mechanismen: einen Staat, der darauf erpicht war, politische Renten (“rents”) an praktisch jedes Mitglied der Gesellschaft zu geben; und ein Parteisystem, das die Verteilung dieser Renten auf ordnungsgemäße und demokratische Art durchführte – abwechselnd, statt in einem Zug.”

Mitte der 1990er-Jahre, nach dem Tod von Papandreou, schwächte dessen Nachfolger Simitis, ein “Technokrat”, den populistischen Kurs der PASOK etwas ab und konnte damit die Aufnahme Griechenlands in den Euro erreichen, mit ein bisschen Nachhilfe durch kreative Statistik. Wirkliche Reformen gelangen aber auch ihm keine.

Ab 2004 war wieder die im populistischen Sinn geläuterte Nea Dimokratia am Ruder, die in Sachen Statistik-Behübschung offenbar Besonderes leistete. Als die ND 2009 abgewählt wurde, war der PASOK-Kandidat, Giorgos Papandreou, der Sohn der charismatischen Gründerfigur, nicht mehr bereit, das Defizit auf seine Kappe zu nehmen und die Scharade fortzuführen. Er “zündete die falschen Zahlen an” und das war der Auslöser dessen, was heute als Griechenlandkrise bekannt ist.

Die privaten Borger wollten nicht mehr borgen und die Regierungen der anderen Eurostaaten eilten mit dem Geld/Kredit ihrer Bürger zu Hilfe (zu Nutz und Frommen ihrer Borger-Banken). Sie übernahmen deren Platz und erhöhten dabei so nebenher die Verschuldung des griechischen Staats massiv. Zugunsten der Fiktion, dass der Karren zum Nulltarif für ihre Borger-Bürger wieder flottgemacht werden könne, pochten die Euro-Kreditgeber auf strenge Austeritätsmaßnahmen – die die griechische Bevölkerung wiederum als Bosheit oder Imperialismus interpretierte, und nicht als indirekte Folge eines 30 Jahre andauernden Polit-Rauschs (den sie selbst so gut es ging genutzt hat).

Ab 2010, resümiert Pappas, gab es keine Mittel mehr, um den Stimmenkauf aufrechtzuerhalten und deswegen sei auch das alte Zweiparteiensystem zusammengebrochen.

***

Das Ganze war systemisch, die primären Übeltäter waren aber die Politiker der ehemaligen griechischen Großparteien, die der Sozialistischen Internationale und der Europäischen Volkspartei angehörten. Es waren beliebte Gesprächspartner für unsere Koalitions-Politiker, für in ihrem Fahrwasser segelnde, schein-unabhängige Wissenschaftler sowie Gastredner für mit öffentlichen Geldern alimentierte politische Bildungsorganisationen.

Also alle jene, die heute eifrig mit dem Zeigefinger wacheln, wenn es gilt, mahnend die Stimme zu den draußen vor der Tür stehenden Rechts- und Sonstwie-Populisten zu erheben. Wer Zeit und Laune hat, kann in die Archive gehen und nachlesen, was heute noch aktive Politiker etwa über die PASOK/Papandreou geschrieben haben oder wie sie auf Veranstaltungen internationalen Aufputz in Form von (“alten”) Nea Dimokratia-Politikern umarmt haben.

Das ist freilich nur ein Seitenaspekt. Die bittere Wahrheit ist, dass  die Politiker von SPÖ und ÖVP in vielerlei Hinsicht ähnlich agier(t)en wie ihre griechischen Bussi-Bussi-Freunde. Zugegeben, es gibt ein paar wesentliche Unterschiede zwischen den beiden politischen Systemen.

Einer davon ist, dass das österreichische Zweiparteiensystem nicht so stark polarisiert war und dass die beiden Protagonisten (mit Ausnahme von 2000 – 2006) gemeinsam/gleichzeitig in der Regierung waren. Das war in Griechenland nicht nötig, weil die dortigen Massenparteien (fast) alternierend Einparteienregierungen stellen konnten. PASOK und Nea Dimokratia zogen abwechselnd an verschiedenen Enden des politischen Systems und stabilisierten es dadurch.

Die Ähnlichkeiten zwischen Griechenland und Österreich sind aber größer. Erwähnt sei nur das auch hier verwurzelte Patronage-Unwesen sowie die chronische Reformunfähigkeit des Landes. Die Dinge sind noch nicht so weit gediehen wie in Athen und für die hiesigen Klienten gibt es noch immer das eine oder andere zu verteilen. Das ist der Grund, warum unser Zweiparteiensystem noch nicht zusammengebrochen ist – und warum es unendlich langsam, Millimeter für Millimeter zu Boden geht.

Literatur: Takis S. Pappas, Populism and Crisis Politics in Greece, 2014

Takis S. Pappas, Why Greece failed, Journal of Democracy; 04/2013

Takis S. Pappas, Not so strange bedfellows: making sense of the coalition between Syriza and the Independent Greeks. 3.2.2015

Foto: Eric Koch /Anefo, Wikimedia Commons

Unabhängiger Journalist

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