Die EU verfügt über fast kein Primärrecht in Sachen Asyl. Die Kompetenzen, die in vergangenen Jahrzenten nach Luxemburg verschoben wurden, will man nutzen, um über die Bande ein einheitliches Asylrecht zu schaffen. Es ist wie mit den Lilliputanern, die Gulliver durch immer mehr, immer engere Fesseln am Ausbrechen hindern möchten. NB zur “Fessel” mittels EuGH-Vorabentscheidung.
Die Schulweisheit besagt, dass Recht durch einen Gesetzgeber geschaffen und dass dieses dann von Gerichten ausgelegt und angewendet wird. Man beschreibt das manchmal als Gewaltenteilung.
Das geschieht in der EU zwar auf eine ziemlich verquere und undemokratische Weise, der Prozess ist aber noch erkennbar – in der Regel.
Die Kommission macht einen Vorschlag und der Ministerrat sagt nach ein bisschen Hin und Her: Ist okay. Daraufhin krächzt auch das Europäische Parlament: Ist okay.
Nicht so in Sachen Asyl.
Dort gibt es kaum primäre Rechtsquellen, die aus Rechtssetzung nach oben geschildertem Muster entstanden sind. Die beiden Wichtigsten sind wohl die EU-Grundrechtscharta (Artikel 18) und der Vertrag von Lissabon.
Die erstere bezieht sich auf die Genfer Konvention von 1951 und der zweitere hat die Asylpolitik vergemeinschaftet, siehe auch hier. Und dann gibt es noch ein bisschen Sekundärrecht, ein paar Richtlinien zur Asylpolitik.
Bleiben die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr “Sprössling” aus dem Jahr 1967 übrig.
Die sind aber, wie der italienische Rechtsprofessor Francesco Cherubini hier schreibt, höchst ineffizient, weil ihnen die Richtlinien und vor allem das Machtinstrument fehlen, mit denen sie durchgesetzt werden können.
Was ganz anderes ist die Europäische Menschenrechtskonvention, in der zwar nichts über Asyl zu finden ist, die aber einen mächtigen Gerichtshof (“EuGMR”) hat, der dieses Recht auslegt und auf kreative Weise auf Asylfragen anwendet.
Dieses Gericht legt einzelne Bestimmungen der Konvention, etwa die gegen die Folter, seit Jahrzehnten so aus, dass daraus ein Schatten-Asylrecht entstanden ist – “par ricochet” wie die Fachleute sagen, also abprallend, über die Bande gespielt.
Man nennt das Rechtssetzung durch Rechtssprechung oder auch richterliche Rechtsfortbildung und das ist so ziemlich das genaue Gegenteil von Gewaltenteilung.
Das ist auch der Grund, warum es in EU-Europa (nicht Österreich) mehr Nutznießer von sogenanntem subsidiärem Schutz als Flüchtlinge gemäß Genfer Konvention gibt. Diese Flüchtlinge sind gar keine Flüchtlinge, sie dürfen aber nicht “abgeschoben” werden, weil ihnen in den Herkunftsländern Folter oder Todesstrafe drohen.
Das macht faktisch aber kaum einen Unterschied, weil die subsidiär Schutzberechtigten den Flüchtlingen gemäß Genfer Konvention und damit auch den Staatsbürgern des “Asyl gebenden” Landes weitgehend gleichgestellt sind.
Aus dem “listigen” Zusammenspiel des EuGMR mit dem EuGH, dem Gerichtshof der Union, malt sich Cherubini aus, wird in absehbarer Zukunft eine gemeinsame Asylpolitik entstehen - trotz fehlender regulärer Rechtsbasis.
Diese (meine Worte) Geisterfahrt der Gerichte in Straßburg und Luxemburg sei entschieden wichtiger als die in Lissabon oktroyierte gemeinsame Asylpolitik, meint Cherubini.
I do not refer to the instruments soon to replace the whole system of asylum in the EU, as their potential contribution to overcoming the problems described appears, at least at first sight, inadequate.”
Heißt: Nicht einmal der illegitime Rechtssetzungsprozess von Lissabon reicht aus, um eine gemeinsame Asylpolitik zu schaffen.
Die EU benötigt weiterhin die kreative Rechtsfortbildung durch nicht gewählte, übernationale Höchstrichter.
Dieser Prozess läuft bereits seit dem Jahre Schnee, späetstens seit den Verträgen von Amsterdam (1999) und Nizza (2003) – und mit diesem Prozess werden Schrittchen für Schrittchen, unerkennbar für Außenstehende und über Jahrzehnte hinweg Parlamente und Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten entmachtet.
Euphemistisch, also beschönigend, wird dieser Prozess “Entstehung” des gemeinsamen Rechtsraums genannt, als würde ihn der liebe Gott erschaffen.
Die hohen Politicos, die Roben sowie andere europarechtlich spezialisierte Rechtsverdreher der Mitgliedsstaaten verstehen das sehr wohl und arbeiten mit.
Sie arbeiten mit, über Tausende rechtspolitischer Entscheidungen, juristischer Traktate und höchstrichterlicher Sprüche den Gulliver einst souveräner Nationalstaaten an den Boden zu fesseln.
Im Gegensatz zu den einfachen Leuten haben sie von diesem Prozess auch etwas: dicke Gagen und fette Forschungsprojekte.
Literatur: Francesco Cherubini, Asylum Law in the European Union. 2015
Bild: Jean-Georges Vibert [Public domain], via Wikimedia Commons
PS: Ich wurde gefragt, was das neue Element sei, das zu einer Vereinheitlichung der Rechtssprechnung der beiden Gerichtshöfe in Sachen Asyl führen solle/werde.
Ich kann das als europarechtlicher Laie nicht genau beantworten, aus Cherubinis Text scheint allerdings hervorzugehen, dass es etwas mit der weiteren oder zu vollendenden Ausdehnung der Vorabentscheidungen durch den EuGH zu tun hat.
Offenbar gibt es da Bereiche, die noch nicht erfasst sind, Lücken sozusagen. Ich habe die Theorie, dass sich Cherubini auf bisher bestehende Ausnahmen für nationale Höchstgerichte bezieht, die fallen sollen – aber das ist die Ansicht eines Nicht-Fachmanns.
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