Die Schotten haben vor einem halben Jahr mit 54 Prozent für den Verbleib im Vereinigten Königreich votiert. Die Abstimmung war ein ungleicher Kampf. Mit Ausnahme der regierenden Schottischen Nationalpartei/SNP traten alle im Norden der Insel präsenten großen Parteien gegen die Unabhängigkeit ein. Gleiches gilt auch für die Zeitungen – für fast alle großen Zeitungen. Der Vorgang war geradezu ein Lehrbuchbeispiel für Rudeljournalismus.
Um für den 18. September 2014 den gewünschten Ausgang herbeizuführen, haben Qualitätszeitungen und Boulevard ihre publizistischen Kräfte gebündelt. Von den regional etwa 30 erscheinenden Titeln (täglich oder wöchentlich) exponierten sich fast alle gegen ein Yes zur Unabhängigkeit. Ausnahmen waren nur die Titel eines in Dundee beheimateten Regionalverlags sowie der Sunday Herald.
“Nach diesem Sperrfeuer”, schreibt ein schottischer Blogger, “war es ein Wunder, dass in Schottland überhaupt irgendwer für die Unabhängigkeit gestimmt hat – um von den zuletzt 45 Prozent der Ja-Stimmenden nicht zu sprechen.”
Iain Macwhirter ist seit Jahrzehnten Kolumnist beim Herald. Er schaffte es noch rechtzeitig vor Weihnachten des vergangenen Jahres eine Analyse des Referendums sowie seiner paradoxen Folgen zu veröffentlichen. Das Buch heißt Disunited Kingdom und ist u.a. hier erhältlich.
Es enthält klassisch gewordene Beispiele englischer Boulevardpublizistik wie: Edinburgher Zoo muss nach Unabhängigkeit Riesenpandas zurückgeben! oder: Rückschlag für Krebsheilung durch Spaltung von UK.
Die schottischen Nationalisten nannten das ironisch indyscare und es ist nicht ganz klar, ob die neue Wortbildung ein Schreckgesppenst für Unabhängigskeitsbefürworter oder für Eingeborene bezeichnet.
Die für ein gehobenes Publikum schreibenden Zeitungen hielten sich formal an die Regeln seriöser Berichterstattung, agierten allerdings nicht weniger einseitig.
Der langjährige First Minister Alex Salmond, ein Linksnationalist, wird vom Autor als ebenso machtbewusster wie gerissener Taktiker gezeichnet.
Salmond wurde damals mit Kritik aus den unterschiedlichsten Ecken regelrecht überschüttet. Seine Schottische Nationalpartei (SNP) wurde ins Nazi-Winkerl gestellt (SNP-Politiker hatten im Zweiten Weltkriegs dazu aufgerufen, Stellungsbefehle zu boykottieren).
Zimperlich ging keine der beiden Seiten vor – auch die Nationalisten nicht. Ein von ihnen mit Eiern beworfener Labour-Politiker konnte sich dank dieser Aktion vier Tage lang auf den Titelblättern halten, schreibt Macwhirter. Vergleichbare Eierkanonaden gegen Unabhängigkeitsbefürworter seien von der Presse nicht einmal thematisiert worden. Nämliches habe für getwitterte Hass- und Drohbotschaften gegolten.
Der schottische Nationalismus ist jedenfalls als politisches und kulturelles schwarzes Loch gezeichnet worden – dessen Gegner aber als Kosmopoliten und Internationalisten. In Wirklichkeit sei es freilich um nichts andres als “zwei konkurrenzierende Nationalismen gegangen: einen britischen und einen schottischen”, schreibt der Autor.
Entfremdung und Vertrauensverlust
Die Themen wurden laut Disunited Kingdom von der Presse meist regelkonform ausgewählt. Beispielsweise die Ankündigung der RBS, im Fall einer Unabhängigkeitserklärung ihr Hauptquartier mit 12.000 Jobs “gen Süden” zu verlegen. Das ist der Stoff, aus dem große Geschichten gemacht sind.
Die Regeln des Journalistengewerbes hätten nach der Ankündigung dafür gesorgt, der story den richtigen Spin zu geben. “The SNP or Yes spokesperson is generally given a right of reply, but the defensive nature of the response itself conveys a message.”
Der newsflow aus dem politisch-ökonomischen Establishment in- und außerhalb Schottlands ermöglichte es jedenfalls, wie am Fließband Aufhänger für Geschichten zu produzieren: “6.500 Rüstungsjobs bei Trident gefährdet”, “Strompreise könnten steigen”, “Gefahr für Pensionsfonds”, “Erhöhte Zinsen für Hypothekarkredite”, etc.
Eine Medienbeobachtung hat ein Jahr lang den Prozess beobachtet und die Berichte als Rohmaterial gesammelt. Das Resultat der Analyse: drei Viertel bis vier Fünftel der storys waren als für die Unabhängigkeitsbefürworter negativ einzustufen. Dies hat zu einer dramatischen Entfremdung vieler nationalistischer Leser von den Printmedien geführt:
Auch die früher über jeden Zweifel erhabene BBC hat diesem Muster der Berichterstattung gehuldigt – und dies hat massive Konsequenzen gehabt. In Schottland sei das Vertrauen in die BBC regelrecht zusammengebrochen, glaubt Macwhirter, ein früherer Mitarbeiter der Nachrichteninstitution.
Das habe sich auf schlimme Weise bemerkbar gemacht. Personen, die sich von der BBC interviewen ließen, wurden als Streikbrecher (scabs) beschimpft. Die Arbeit seiner Ex-Kollegen von der BBC sei handwerklich betrachtet aber meist in Ordnung gewesen, urteilt der Verfasser von Disunited Kingdom.
Erpressung mit gemeinsamer Währung
Die für Macwhirter bedeutsamste Entscheidung war die bereits 2013 erfolgte, einseitige Erklärung Londons, Schottland müsse als unabhängiger Staat das Pound Sterling aufgeben. Dies sei zwar schnell als Erpressungsmanöver durchschaut worden, habe letztlich seine Wirkung aber nicht verfehlt.
Für Macwhirter besteht genau darin der größte Sündenfall Londons. Die gemeinsame Währung ist mit der “freiwilligen” Vereinigung Englands und Schottlands im Jahr 1707 entstanden und hat sich für Macwhirter spätestens 2014 endgültig als Machtinstrument einer Seite zu erkennen gegeben.
Aber auch die SNP hat nicht adäquat reagiert. Sie hat zugeben müssen, für diesen Fall über keinen Plan B zu verfügen (es gab letztlich die – nur wenig attraktive – Option zur Anbindung einer eigenen schottischen Währung an das Pfund).
Gleichzeitig, schildert Macwhirter, sei dem aufmüpfigen Elektorat eine Karotte mit weitgehenden Quasi-Verfassungsreformen vorgehalten worden. Ein paar Tage vor dem 18. September versprachen die britischen Konservativen, Labour und die Liberaldemokraten, “umfangreiche neue Kompetenzen” an Schottland abzugeben (“Project Vow”).
Dies ist nachher im Eiltempo, in weniger als drei Monaten in einer Kommission des schottischen Parlaments vereinbart worden. Kaum überraschend ist dabei viel weniger herausgekommen als die von den Nationalisten eigentlich angestrebte maximale Devolution (dev max).
Verlierer gibt das Tempo vor
Das war aber nicht die bedeutsamste Entwicklung, die in Schottland seit dem Referendum vom 18 September stattgefunden hat. Volkstribun Salmond trat – weil Verlierer des Referendums – wie erwartet bald zurück, tat das aber mit mit einer großen Geste und nicht ohne anzukündigen, höchstselbst die Londoner Politik beim Wort zu nehmen (“I shall hold Westminster’s feet to the fire”).
Salmonds stärkster Gegenspieler beim Referendum war eigentlich eine Gegenspielerin, die Chefin der schottischen Labourpartei, Johann Lamont (sic). Die trat fast gleichzeitig mit Salmond von ihrem Parteiamt zurück. Sie begründete dies damit, dass die regionale Organisation, der sie vorstand, von der Londoner Zentrale als “Zweigstelle” behandelt würde.
Das war etwas, was die linke Konkurrentin SNP schon seit Jahr und Tag behauptet und was Labour stets abgestritten hatte. Zu allem Überfluss bestätigte ein ehemaliger Labour-Spitzenpolitiker die Lamont-Aussagen noch. Labours Aussichten in ihrer ehemaligen Hochburg sind heute nicht gerade berauschend.
94.000 Schotten haben inzwischen eine Petition zur Wiederholung der ihrer Meinung nach geschobenen Abstimmung unterzeichnet. Nach einer “Schrecksekunde” Ende September ging auch die Unabhängigkeitskampagne weiter als sei nichts vorgefallen. Die Mitgliederanzahl der SNP hat sich seit dem Referendum jedenfalls verdreifacht.
“Die Verlierer stolzieren heute wie die Sieger herum und die Sieger schauen zusammengeschlagen und ramponiert aus als ob sie verloren hätten”, beklagt sich ein in Disunited Kingdom zitierter Unionist.
Diese unerwartete Situation ist übrigens auch der Grund, warum Macwhirter glaubt, dass Schottland heute so knapp wie noch nie vor der staatlichen Unabhängigkeit steht. Eigentlich ist der Mann ja immer “nur” für eine starke Föderalisierung eingetreten, “aber der Zeitpunkt für eine Föderalisierung des Vereinigten Königreichs ist mittlerweile wohl vorbei.”
Persönliche Nachbemerkung
Die Schilderung der Erpressung mittels einer gemeinsamen Währung sowie des Vorgehens, das die Medien dabei an den Tag legten, erinnert massiv an das Vorgehen der kontinentalen Mainstream-Medien bei der Einführung des Euro bzw. der politischen Klasse vor der Beschlussfassung neuer EU-Verträge.
Es bestehen nur zwei Unterschiede: die Medien in Kontinentaleuropa stammten nicht aus einer anderen Nation oder auch nur einer “fremden Ecke” des eigenen bisherigen Staatsverbands. Es handelte sich immer um sogenannte eigene Medien.
Und zweitens: Anders als in Großbritannien 2014 sind in der EU in den vergangenen 20 Jahren kaum jemals Abstimmungen zugelassen worden – deren Zahl kässt sich an den Fingern zweier Hände abzählen. Insofern sollten sich manche der schottischen Nationalisten lieber zwei Mal überlegen, was sie sich für ihre Zukunft wünschen.
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