Erdöl: Die Tragweite von 20 Prozent

Der Brent-Preis soll in den vergangenen Tagen “signifikant gestiegen” sein und die erste Frage ist hier natürlich, was unter “signifikant” verstanden wird.  Ist eine Erhöhung von 78 auf 79 Dollar “signifikant”?  Oder wenigstens eine von 76? Und was haben die Piraten vor Somalia damit zu tun? Wie relevant ist Öl vom Golf überhaupt für Europa und welchen Einfluss haben eigenhändige Selbstmord-Sanktionen sowie Tanker-Kaperanten im Roten Meer auf den Derivativpreis von Brent? In beiden Fällen anscheinend ziemlich wenig.

Überschlagsmäßig bezieht das (erweiterte) Europa knapp 20 Prozent seiner Ölimporte von Lieferanten, deren Ware durch die Straße von Hormuz muss bzw. durch das Piraten-Gewässer am Horn von Afrika sowie den Suez-Kanal.

Etwas weniger als 20% bei Rohöl und noch ein bisschen weniger bei Ölprodukten.

Nach den Ganzjahres- Zahlen der Statistical Review 2023 des Energy Institute haben Saudiarabien, der Irak sowie ein paar kleine Lieferanten aus der Region 2022 94 Millionen Tonnen Rohöl nach Europa geliefert, was etwa 2 Millionen Barrel pro Tag entspricht – bei einem europäischen “Bruttokonsum” von 14,5 Mio. Barrel (“all liquids”, Tabelle, S. 19).

Ähnlich die “refined products”, von denen Europa aus Mittelost knapp 35 von insgesamt importierten 207 Millionen Tonnen bezog, was etwa 17 Prozent entspricht. (Tabelle S. 29)

Der Fairness halber sei noch festgehalten, dass

  • ein größerer Teil der “refined products” aus dem Golf auch Vorläufersubstanzen von Kunststoffen beinhaltet, wie die Borealis sie gebrauchen kann und
  • dass man zwecks Vergleich die gesamte GUS heranziehen sollte, weil man in Mittelost ja auch nicht nur Saudiarabien zählt.

So gerechnet war die GUS inkl. Russland für Europa 2022 etwa doppelt so wichtig wie Mittelost,

wobei man getrost davon ausgehen darf, dass der (wichtige) Diesel-Anteil der russischen Produkten-Lieferungen höher war als jener der arabischen.

Welchen Preiseffekt hat nun das Mitte 2022 verhängte EU-Erdölembargo gegen Russland auf den Derivativpreis von Brent gehabt?

Gar keinen oder einen “kontraintuitiven”, wie ein schneller Blick auf den Preis-Chart lehren kann:

Zu etwa diesem Zeitpunkt begann nämlich der Preisverfall von Brent von 120 auf 75- 80 Dollar pro Barrel.

Warum, bitteschön, sollte der Brent-Preis wegen der Piraten vor Somalia nun verrückt spielen?

Das wäre nur dann der Fall, wenn es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ginge und

eine starke Erhöhung gewollt würde – von jenen Herrschaften, die den Derivatenpreis mittels Future-Kontrakten kontrollieren.

Ansonsten bin ich der Meinung, dass der theoretische Preis für in einem halben Jahr Nüsse bedeutet, wenn die Chance minimal ist, dass der Käufer des Kontrakts auf physische Lieferung besteht.

Unabhängiger Journalist

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