Niall Ferguson, der hier als Neil apostrophiert wird, hat soeben das interessante, unten eingebundene Interview zum Thema “Untergang der westlichen Zivilisation” gegeben. Seine Aussagen, die zum Teil nachvollziehbar sind, hinterlassen andenorts dennoch einen irrigen Eindruck. “Mr. Nobody” erlaubt sich, Anmerkungen zu einem “Großhistoriker” zu machen (Danke, T.! Das originale Interview ist hier auf Youtube zu finden.)
Fergusons Ausführungen haben den Charakter einer Art von akademischem pep talk für desparate Westler, die wegen Klimakastrophe, Kriegstreiberei, BRICS usw. das nahe Ende der westlichen Zivilisation als gekommen sehen
und das erste Drittel des Interviews besteht darin zu unterstreichen, dass das aus Sicht des Großhistorikers gar nicht so ist. Diese Sicht hat Neil vor drei Jahren, also vor dem Ukraine-Krieg, schon einmal in Buchlänge vorgelegt (ein Text, den dieser Blogger zugegebenermaßen nicht gelesen hat).
Der Sukkus von Doom und des ersten Interview-Drittels ist, dass historische Zyklentheorien nicht stimmen
- und darüber kann man mit seriösen Argumenten wohl tagelang diskutieren (aber das Dritte Reich bitteschön nicht mit Westrom in einen Topf werfen!).
Wie dem auch sei
- Ferguson ist der Ansicht, dass sich Geschichte nicht in Zyklen abspielt (was nach Toynbee sowieso Konsens ist)
- und glaubt daraus schließen zu können, dass der Kollaps von Empires bzw. Zivilisationen (auch so eine Unschärfe) keinen Gesetzmäßigkeiten unterliege,
gewissermaßen zufällig ist – so wie’s Pathogenen, Vulkanen, Erdplatten oder auch menschlicher agency “grad einfällt”.
Das mag – meint dieser Blogger – für die letzte “plötzliche” Phase ja stimmen
(gemäß dem berühmten Diktum jener Hemingway-Figur, die auf die Frage, wie sie denn pleite gegangen sei, antwortete: “Erst langsam und dann plötzlich.”)
Aber es gibt in der Menschheitsgeschichte Hunderte von “Zivilisations-Zusammenbrüchen” und soweit
- Daten bzw. archäologische/anthropologische Erkenntnisse “schon da sind” und
- dieser Blogger sich die Fälle angesehen hat,
ging dieser “plötzlich-Phase” praktisch immer eine “lang gezogene, langsame Decline-Phase” voraus, die IMO auf zwei Hauptfaktoren zurück zu führen ist:
- (“natürlicher”) Klimawandel
- und (“menschengemachte”) Erschöpfung dichter Energie-Ressourçen.
Das ist keine Frage bloß unterschiedlicher tellings etwa von Gibbon und Ward-Perkins (Ferguson wird das selbst genauer wissen).
Es mag jeweils auch individuelle, “hausgemachte” Faktoren gegeben haben,
die Neil für den Casus der zeitgenössischen USA selbst verbalisiert (gewissermaßen eine elegante “Verkehrte” für seine Interviewer):
die wachsende Abstimmung der Feinde, die unhaltbaren US-Defizite, oder der schwächer werdende militärisch-industrielle Komplex (der vierte Punkt ist mir entfallen).
So überzeugend das “Argument” aufs erste Hinhören auch klingen mag-
Der Verweis auf 1973 ist jedenfalls besonderer Dummfug, speziell aus dem Mund eines “Großhistorikers”.
Die beiden Hauptgründe, dass FergusonsVerweis wenig bringt, sind:
- 1973 lag der Peak in der globalen (echten) Ölproduktion erst in der Zukunft und
- das internationale System des US-Empire wie wir es heute kennen, war erst in der Anfangsphase (“frei flotierender bzw. ungedeckter Dollar” sowie endgültige Kooptierung Saudi-Arabiens und der UdSSR).
Auch “I could go on and on” – aber das war wohl das Wichtigste.
Der entscheidende Punkt ist,
die selige SU, die vor 30 Jahren bankrott ging, nicht nur als militärischen Antagonisten, sondern auch als Bestandteil eines aus den USA gesteuerten “Weltsystems” zu sehen.
Insofern war das Schicksal der SU in den 1990ern nur ein “halber Sieg des Imperiums”.
Mit der stillen Revolution der Silowiki (“Putin”) verlor der Westen nicht nur die direkte Verfügung über Öl und Gas aus dem sowjetischen bzw. russischen Großraum, sondern
- erschuf erst einen Feind, der auch nach Meinung der dortigen Bevölkerung auf Rache bzw. “Gerechtigkeit”sinnen durfte und
- in anderen Weltgegend mehr Staub aufwirbeln konnte als die (post)stalinistische SU .
Die Beobachtungen Neils zum ideologisch weit “linken” Charakter des heutigen Bildungssystems, der “säkulären Religion” der Generation Z und deren (heute) paradox schlechter Interessenspositionierung kann ich weitgehend teilen.
Das Problem ist “nur”, dass Ferguson
- weder die “systemimmanente” soziale Dynamik unseres Geldsystems versteht noch akzeptiert, und
- dass es “energetisch” eine “ultimative Disruption” dieser Dynamik geben wird bzw. gibt (ist gerade dabei zu passieren).
So gesehen müsste man vom drohenden Untergang der ersten globalen, von fossilen Brennstoffen getriebenen Zivilisation sprechen
und sich die Frage stellen, ob es danach überhaupt eine oder mehrere “neue Weltordnungen” geben wird.
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