Hassan Hamadé ist ein libanesischer Politologe, der vor ein paar Tagen einen offenen Brief an “die Europäer” veröffentlicht hat. Seine Hauptbotschaft: Die NATO ist in Wahrheit die Schutzmacht jener sunnitischen Terrororganisationen, die sie vorgibt zu bekämpfen. EU-Europa spielt die Rolle eines Handlangers für eine katastrophische US-Politik.
Geographischer Ausgangspunkt von Hamadés Epistel ist eigentlich das benachbarte Syrien, “die alte Heimat des Christentums mit seinem ungewöhnlichen Zusammenleben von Religionen, Konfessionen und Ethnien”. Dort, wo Zehntausende sogenannte Freiheitskämpfer der Al Kaida “gute Arbeit” leisten würden, wie das der französische Außenminister Laurent Fabius auszudrücken beliebte. Gute Arbeit beim Blutvergießen.
Das, was in Syrien, im Irak und im Nordsudan passiere, werde in Libyen, der Türkei und in anderen vom Westen kontrollierten Staaten/Gebieten vorbereitet. “Die Masken sind gefallen und die seit Jahrzehnten gebaute Lügen-Zitadelle rund um die NATO eingestürzt.”
“Euer Westen und die schlechte Gesellschaft, in die er sich begeben hat, bedrohen den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Der Leichtsinn Eurer Führungsfiguren, ihre Kungeleien und ihre kriminelle Gier verwandeln Eure Regierungen in raubgierige Diktaturen, die mit der Existenz eines Rechtsstaats unvereinbar sind. Die Politik, die sie in Eurem Namen führen, gleitet unaufhaltsam auf einen Totalitarismus zu.”
Um es auszusprechen: der Autor meint die Europäer und ihre Anführer, Leute wie Nicolas Sarkozy und Francois Hollande. Was kann der Libanese nun an Tatsachen vorbringen, um einen solchen Aufwand an Rhetorik zu rechtfertigen? Leider Gottes eine ganze Menge – auch wenn die Europäer dies üblicherweise nicht in ihren Zeitungen lesen können.
Die “Freiheitskämpfer”, die (unter anderem) nach Syrien gehen, werden in Terrorcamps in Südlibyen ausgebildet, “Universitäten” wie sich Hamadé süffisant ausdrückt. Allein im Dezember 2013 und Jänner 2014 habe die südlibysche Provinz Fezzan 5000 Dschihadis nach Syrien geschickt, heißt es unter Berufung auf eine französische Militärquelle.
Der französische Generalstabschef, der 2011 jene militärische Operation leitete, die diesen Zustand ermöglicht hat, hat eine Woche vor seiner Pensionierung folgendes zu Protokoll gegeben: Südlibyen habe sich in ein “Schwarzes Loch” verwandelt, “in dem sich die Terroristen regenerieren können und wo sie bewaffnet werden.” (Liebe Mitteleuropäer, habt Ihr das schon jemals in einer Eurer Zeitungen gelesen ? Nicht!?)
Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, befürwortete Edouard Guillaud eine neue Militärintervention “am besten mit Zustimmung der libyschen Regierung” – doch, ach, welcher Regierung ?
Hamadé antwortet auf dieses Ansinnen: “Der Westen, der seit 2011 die völlige Lufthoheit in Libyen innehat, behauptet nun, er könne nichts gegen die Terror-Unis in der Wüste unternehmen?” Derlei sei eine “groteske Lüge”. Moderne Satelliten, die jede Bewegung und die kleinsten Geräusche registrieren, könnten sogar einzelne Personen problemlos orten. “Jedem muss die extreme Verwundbarkeit der im offenen Gelände angesiedelten Terrorismus-Akademien bewusst sein. Speziell in einer Umgebung wie der Sahara wären diese ohne jede Deckung und leichte Ziele für einen Feind, der aus der Luft kommt.”
Diese Al Kaida-Camps seien es auch, die die Rekruten für die “terroristischen Bedürfnisse” in den Nachbarstaaten lieferten, beispielsweise an Boko Haram, jene Organisation, die im April mehr als 100 nigerianische Schülerinnen entführt hat; ausgewählte Opfer, über die die Frauen der NATO-Staatsmänner öffentlichkeitswirksam Krokodilstränen vergießen.
Während die Absolventen aus Fezzan aus westlicher sicht “gute Arbeit” in Syrien leisteten, verrichteten sie – wieder aus dieser Perspektive – “schlechte Arbeit” in Nigeria und in Mali – böten aber immerhin einen guten Vorwand für jede Art von militärischer Intervention. Aber nicht nur in Libyen agierten die Terroristen – für jeden sichtbar – unter dem Schutz des westlichen Bündnisses. Auch im NATO-Land Türkei befänden sich drei Lager, in denen die Aufständischen in Syrien ausgebildet würden: in Şanlıurfa, Osmaniye und Karaman.
Die großen Player im Hintergrund seien die USA und Israel, die mit einem langfristigen Plan der “kreativen Zerstörung” (Leo Strauss) die ganze Region ihren Interessen anpassen wollten.
Die europäischen Führer – inklusive Erdogan – spielten die Rolle bedingungslos ergebener Vasallen. Diese Rollenverteilung sei “die wahre Natur der transatlantischen Beziehungen – der Beziehung zwischen dem Besatzer und den besetzten Europäern. Der Erstere erteilt entsprechend seinen Interessen die Befehle und die Letzteren führen sie aus. Und wo bleiben die europäischen Interessen?”
Wie ein solcher Plan funktionieren soll, wenn doch eine Vierte Macht, die Medien, den Regierenden angeblich auf die Finger sieht? Graue Theorie, sagt Hamadé. Die klassischen Medien hätten einen neuen “Eisernen Vorhang” aus Unwahrheiten errichtet, hinter dem die Europäer in Unwissenheit und Hilflosigkeit gehalten würden.
“Dessen Rolle besteht darin, die echten strategischen Widersprüche zwischen den Interessen Europas und jenen der Vereinigten Staaten zu verbergen – und zwar so, dass Ihr, das Publikum hinter dem Eisernen Vorhang, nicht bemerkt, dass Eure Führer den Interessen des Imperiums und nicht den Euren dienen.”
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