Es geht nicht darum zu bestreiten, dass Politiker lügen und täuschen. Das tut die Mehrzahl inkl. der englischen Brexit-Befürworter. Unsere Mainstream-Medien können das aber noch besser – indem sie über angebliche Versprechen des Leave-Camps berichten, die bloße Legenden sind, mit erfundenem Beiwerk rund um einen wahren Kern. Beispielsweise dieses Stück auf orf.at. NB zur Verantwortung des ORF.
Hier wird behauptet, dass die brexiteers nur wenige Stunden nach ihrem Sieg bereits von zentralen Wahlkampfversprechen abgerückt wären – die es freilich so nie gegeben hat. Dabei knüpft die Berichterstattung an intellektuell unehrliche Vorbringen von Remain-Aktivisten in UK selbst an und gibt sich nicht die Mühe, diese auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen.
Zum Beispiel bei einer Aussage des früheren Londoner Bürgermeisters (und mutmaßlichen nächsten Premiers), Boris Johnson.
Glaubt man unseren EU-Fans (und ihren Stichwortgebern), hat Johnson angekündigt, man werde im Austrittsfall wöchentlich 350 Millionen Pfund in das schlechte öffentliche Gesundheitssystem des Landes stecken.
Diese Aussage wurde nach allem, was vom Kontinent aus erkennbar ist, nie gemacht.
Johnson hat offenbar “nur” gesagt, dass ein Entfall der britischen EU-Zahlungen es erlauben würde, Geld in andere Bereiche zu stecken, zum Beispiel ins Gesundheitswesen.
Dabei hat der Tory-Politiker (der zur Abwechslung wirklich ein Populist ist bzw. bisher war) den Mitgliedsbeitrag übertrieben, den die Briten jährlich an die EU zahlen müssen.
Boris hat – wohl mit Absicht – brutto mit netto verwechselt (was sonst ja nie vorkommt ).
In Wirklichkeit zahlen die Briten abzüglich ihres (umstrittenen) Rabatts sowie der Rückflüsse auf die Insel jährlich neun Milliarden Pfund (und nicht 18 Milliarden).
UKIP-Leader Nigel Farage, laut ORF ein Rechtspopulist, hat das “Argument” nach dem Referendum als Fehler des Leave-Camps bezeichnet, dem er selbst angehört.
Fazit: Johnson hat in der Frage sehr wohl mit gezinkten Karten gespielt. Dass er aber, wie behauptet vorgeschlagen hätte, 350 Millionen Pfund pro Woche statt nach Brüssel an das NHS fließen zu lassen, ist eine glatte Erfindung. Eigentlich ist es eine Fälschung der Nachrichtenlage von gestern.
Relativ nüchtern werden die entgegengesetzten Positionen dazu im Indepedent berichtet.
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Ähnliches gilt für die Behauptung, das Brexit-Lager habe im “wohl entscheidenden” Themenfeld Zuwanderung geschwindelt.
Wenn das Großthema (Im)Migration für das Referendum von Bedeutung war, dann wegen des weithin erkennbaren politischen Murkses (?), den Berlin, Brüssel & Co. in der sogenannten Flüchtlingskrise aufgeführt haben. Diesen Murks mögen die Brexit-Politiker ausgeschlachtet haben – aber sie haben ihn nicht zu verantworten.
Unsere Nachrichtenfälscher stützen sich bei ihrer These vom Versprechenbrechen in Einwanderungsfragen eher auf ein Zitat des konservativen Abgeordneten Hannan, der gemeint hatte, dass es auch weiterhin Zuwanderung aus dem EU-Raum geben werde.
Hannans Haltung entspricht dem traditionellen liberalen Arbeitsmarktverständnis der englischen Regierungen (nicht nur der konservativen – Tony Blair !). Die Brexiter wollen durch die Bank einen gegenüber der EU möglichst offenen Arbeitsmarkt (ebenso wie Freihandel mit dem Kontinent).
Die angebliche Abkehr von früheren Versprechungen wird nun damit begründet, dass Johnson (“wörtlich”) gesagt habe, dass das „automatische Recht für alle EU-Bürger, in Großbritannien zu leben und zu arbeiten, nach einem Votum für den Austritt enden wird“.
Ja und ? Was haben derlei plumpe Psyops mit kritischer oder auch nur akkurater Berichterstattung zu tun ?
Ein Vorbringen wie dieses ist bestenfalls etwas, das als Strohmann-Argument bezeichnet wird – eine rhetorische Figur, mit der ein “Argument” eines Gegners widerlegt wird, das in dieser Form nie existiert hat.
Das mag z.B. im erhitzten politischen Streit verständlich und und irgendwie verzeihlich sein.
Nicht verzeihlich ist es, wenn solches von einem Medium verbreitet wird, das fast zwei Drittel seiner Einkünfte (“Programmentgelte” = Zwangsgebühren) mit einem öffentlichen Auftrag sowie korrespondierenden journalistischen Standards begründet. Für wie blöd hält dieser Staatsssender seine Konsumenten/Gebührenzahler eigentlich ?
Nachbemerkung, 26.6.14:30: Mir ist bewusst, dass das Ausgangsmaterial zu dieser story höchstwahrscheinlich von Agenturen stammt. Aufmachung, Titelgebung und Auswahl des Materials dagegen ziemlich sicher nicht. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde der ORF mit einer solchen Geschichte massiv gegen die selbst gegebenen Prinzipien des journalistischen Arbeitens verstoßen.
Bild: Oxfordian Kissuth, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
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