Das Ende der Karbondemokratie

Das marxistisch orientierte akademische Establishment fängt an zu beschreiben, wie der historisch beispiellose Energiereichtum des vergangenen Jahrhunderts dessen “Demokratie” erst ermöglicht hat - ebenso wie die sozialfriedliche Entwicklung in den Industriestaaten. Der angeblich historisch notwendige Übergang zum Sozialismus wird nicht mehr als Machtergreifung durch das urbane Proletariat (bzw. dessen Funktionäre) beschrieben. Das neue Bild solcher Transformation ist der planwirtschaftlich gemanagte Übergang in eine wachstumslose Wirtschaft mit niedrigem Treibstoff(Kohlenstoff)verbrauch.

Derlei gilt unter den Rechtgläubigen seiner Konfession natürlich als häretisch. Immerhin beweisen besagte professores, dass sie sie die eine oder andere Wahrheit auch im falschen Leben produzieren können.

Die Rede ist von Timothy Mitchell und John Urry. Ihre Publikationen lassen kaum Zweifel daran, dass sie die zurückgehende Erdölförderung für den realen Kern der Saga von der Erderwärmung durch menschengemachtes CO2 halten – ohne dass sie sich freilich in die potenziell ruinöse Position von Klimaleugnern begeben würden.

cover_MitchellMitchell, ein Fachmann für den Mittleren Osten der Columbia, wundert sich in seiner 2011 erschienenen Carbon Democracy immerhin darüber, dass es einereits eine unumstrittene Wissenschaft vom Klimawandel samt zugehörigen internationalen Organisationen (IPCC) gibt, während beim viel kurzfristiger drohenden Peak Oil nichts Vergleichbares entstanden ist.

Seine Erklärungsversuche für dieses Phänomen fallen etwas lahm aus – was wenig verwunderlich ist, weil er ja zur sogenannten Klimawissenschaft nicht offen auf Distanz gehen kann. Die These von der anthropogenen Erwärmung hat man wissenschaftlich etablieren können, behauptet Mitchell allen Ernstes, und zwar über eine Messmethode, die gezeigt hat, dass die CO2-Konzentration der Atmosphäre von 0,03 auf 0,04 Prozent gestiegen ist (Seite 242).

Vergleichbar objektive Daten liegen für die Erdölreserven nicht vor und deshalb können die Ökonomen und Experten des Kohlenstoffkapitals die Ungewissheit über die Welteserven aufrecht erhalten (warum wollen die das eigentlich? Bei einer bevorstehenden Knappheit könnten die Verkäufer des Zeugs ohne große Probleme Wucherpreise verlangen!).

Für Mitchell liegen die frühesten Wurzeln der Demokratie in den Industrieländern nicht in verrauchten Pariser Debattierclubs vor der französischen Revolution, sondern im rauchenden Einsatz von Kohle, die zum ersten Mal eine industrielle Massenproduktion ermöglicht und ein im Bergbau beschäftigtes Proletariat hervorgebracht hat. Die letztlich sozialen Forderungen der Minenarbeiter sind in seinen Augen für die Demokratisierung und Sozialgesetzgebung des letzten Viertels des 19. sowie des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts verantwortlich gewesen.

Das sei für die Karbonkapitalisten aber zu unbequem gewesen, weshalb man auf Erdöl umgestiegen sei. Das habe den Vorteil einer leichteren Beherrschbarkeit der demokratischen = egalitären Forderungen der Arbeiter in der industrialisierten Welt gebracht. Wodurch? Dadurch, dass Produktion, Verarbeitung und Weiterleitung sich hauptsächlich auf das know how von gut bezahlten Experten gestützt hat und dadurch, dass Öl zu einem immer höheren Prozentsatz aus Ländern der “Peripherie” kam, wo die Arbeiter noch weniger aufmüpfig waren (ebenso wie die lokalen Eliten).

Mitte des 20. Jahrhunderts seien dann neue Regeln namens Ökonomie erfunden worden, die es ermöglicht hätten, den Reichtum an billiger Energie aus Kohlenstoffverbindungen als unerschöpfliche Ressource zu behandeln, die ewiges Wachstum erlaube.

Die Ölquellen und Pipelines des Mittleren Ostens und die politischen Arrangements, die mit ihnen gebaut wurden, haben die Herstellung einer Keynesianischen Wirtschaft und jener Demokratieformen ermöglicht, in denen sie eine zentrale Rolle spielte. Dank Öl entwickelte sich demokratische Politik mit einer speziellen Orientierung an der Zukunft: die Zukunft war ein endloser Horizont des Wachstums.” (S. 142, eigene Übersetzung)

Aus Sicht der Eigeninteressen der Kohlenstoffkapitalisten, nimmt Mitchell anist der Überfluss von billigem Öl aber ein Problem gewesen – und zwar weil das Überangebot Preise und Gewinne ständig bedroht hat (trotz konkurrenzlos billiger Produktion im Mittleren Osten). Dieses Problem des Kapitals ist später durch die beiden Ölschocks sowie über den Neoliberalismus, einen ebenso handlichen wie schicken Begriffs-Jolly Joker, gelöst worden. Speziell die traumatischen Erfahrungen von 1973 und 1979/80 ermöglichten eine dem Kapital genehme Rückkehr der Knappheit, oder besser: deren ersten Wiederauftritt seit Menschengedenken.

Immer wieder gerät Mitchell in die Zwickmühle zwischen den erlernten intellektuellen Strickmustern und den Einsichten, die er aus seiner Beschäftigung mit den Energiesystemen des 19. und 20. Jahrhunderts gewonnen hat. Die Aporie lautet vereinfacht ausgedrückt: Das Füllhorn der fossilen Energie hat auch die Unterdrückten des “Nordens” mit einem Reichtum und politischen Freiheiten ausgestattet, die sie sie auf Basis der Grundannahmen von Marx & Engels nie hätten erlangen dürfen.

Das zweite politisch-ideologische Problem, das Mitchell ohne Zweifel erkannt hat, lässt sich folgendermaßen umschreiben: Wenn der Karbonkapitalismus

  • erstens einen solchen Wohlstand auch in der lohnabhängigen Bevölkerung der entwickelten, kapitalistischen Konsumentenländer hervorrufen konnte und wenn
  • zweitens wg. Peak Oil die Geschäftsbasis dieses Modells entfällt - 

was bleibt dann von der Verheißung des im Sozialismus zur Neuverteilung anstehenden gesellschaftlichen Reichtums? Was bleibt vom Phantasma vom Ende des Reichs der Notwendigkeit? Was von der immer wieder für die eigene Seite reklamierten Demokratie?

Es gäbe ein paar Möglichkeiten mit solchen Fragen umzugehen, beispielsweise über eine Neudefinition gesellschaftlicher Produktion/gesellschaftlichen Reichtums, etwa auf diese Art. Aber so etwas steht Leuten, die sich noch immer als Materialisten definieren, schlecht zu Gesicht und daher schneidet Mitchell die heikle Frage gar nicht erst an. Er lässt die Zukunft Zukunft sein und beschweigt das Thema einfach.

So lautet denn auch der in seiner Unbestimmtheit geradezu wuchtige Schlussatz:

The possibility of more democratic futures, in turn, depends on the political tools with which we address the passing of the era of fossil fuel.”

***

cover_urryDie zwei Jahre später erschienenen Societies Beyond Oil. Oil Dregs and Social Futures von John Urry fangen dort an, wo Mitchell aufhört. Urry hat der Peak Oil-, Post Kohlenstoff- und Resilienz-Bewegung vor allem aus den USA aufmerksam zugehört, und er findet sehr viel des dort Gesagten auch brauchbar. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die genannten Bewegungen eine Synthese aus sozusagen paläoökologischen Gruppierungen mit etatistisch-planwirtschaftlichem Gedankengut darstellen. Urrys Buch ist hier zu bestellen.

Der Autor hält sich nicht lange mit petrowissenschaftlicher Beweisführung auf und das ist gut so, denn dafür gibt es andere, bessere Adressen als Soziologen, Tourismus- und Mobilitätsforscher. Schon im Untertitel stellt er fest: Unsere Gesellschaften sind mittlerweile beim Bodensatz, bei den letzten Resten des Ölzeitalters angekommen. Der deus ex dolio, der in den Industrieländern das 20. Jahrhundert erträglich gemacht hat, pfeift aus dem letzten Loch. In einer solchen Situation ist es mehr als gerechtfertigt, nach der Zukunft unserer Gesellschaften zu fragen.

Das ist gewissermaßen eine Prämisse und wenn man sie akzeptiert – was ich tue -, sollte man dem Mann zuhören.

Urry unterscheidet zwischen vier möglichen, idealtypischen Zukünften: die “Magic Bullet-Zukunft”, das “digitale Leben”, die “Ressourcenkämpfe” und die “Niedrig-Kohlenstoff-Gesellschaft”.

Das erste Szenario träte ein, wenn eine energetische magische Kugel, eine Universallösung er/gefunden würde, ein Hightech-System, das es ermöglicht, den bisherigen westlichen Lebensstil fortzuführen (und ggf. auf andere zu übertragen). Das zweite Szenario ist ebenfalls high tech, aber eine Variante, die auch unter den Bedingungen allgemeiner Energiearmut stattfinden kann. Die physische Bewegung menschlicher Körper wird durch die Entwicklung digitaler Welten ersetzt.

Das dritte Szenario, dem Urry die höchste Wahrscheinlichkeit beimisst, sind Kriege um knappe Rohstoffe und Energie. Die vierte Variante schließlich ist das abgestimmte, friedliche Herunterfahren unserer kohlenstoffabhängigen Hochenergiegesellschaften – die für den Autor wünschenswerteste Zukunft. Sie enthält auch Elemente der zweiten Variante, im Versuch,

“einige der Annehmlichkeiten und Vorteile unserer heutigen, relativ reichen Gesellschaften beizubehalten, selbst wenn das messbare Einkommen fällt.” (Seite 202)

Urrys vielleicht wichtigste Punkte für ein erfolgreiches Powerdown sind folgende:

  • Lokalisierung statt Globalisierung – und zwar von der Nahrungsmittelproduktion bis zur allgemeinen Industrie,
  • Entmobilisierung bzw. Kollektivierung der Ortsveränderung statt individueller Mobilität (mit entsprechenden Auswirkungen auf Motorisierung und Fernreiseverhalten auch des gemeinen Manns) sowie
  • etwas, was der Professor Ent-Finanzialisierung nennt – worunter er aber ausschließlich die Unterbindung von Steuerflucht zu verstehen versteht.
  • Schließlich verdient sein höchst verlogener Umgang mit dem Begriff Demokratie besondere Erwähnung. Er steht damit in einer langen Traditionslinie bestimmter politischer Bewegungen, für die Demokrratie ausschließlich ist, was den eigenen ideologischen Vorstellungen entspricht. Urry jammert zwar kapitelweise über den angeblichen antidemokratischen Fluch des Öls sowie über die Tatsache, dass big oil über diverse Formen von “Bestechung” alle möglichen Akteure einkauft – er wird aber extrem wortkarg, sobald es darum geht, das geliebte Powerdown auf einer demokratischen Skala zu verorten. Ja, es ist wahr, ein Mal bläst er in seine Tröte und sondert dabei Phrasen über Demokratie und Zivilgesellschaft ab – dass aber die Trennung John und Jane Does von ihrem Privatauto irgendwie demokratisch oder zivil vonstatten gehen könnte, glaubt er sichtlich selbst nicht.

Mit einem Wort: der gute Mann will seinen Kuchen essen, ihn gleichzeitig aber behalten. Er behauptet Lokalisierung und  Demokratie anzustreben, will aber mit den Institutionen der globalen Zivilgesellschaft (…) gutartige Lösungen auf Niedrig-Karbon-Basis verhandeln. Er tritt gegen die Finanzialisierung auf und verliert kein Wort z.B. über Kreditschöpfung, fractional reserve banking oder Notenbankpolitiken, die die Voraussetzung für das beklagte Phänomen sind (wenn, dann wurde in der Vergangenheit zu austeritätsorientiert, zu wenig expansiv, kurz: “zu neoliberal” agiert, glaubt er.)

Er will die vorhandenen Ressourcen und Talente in produktive Investitionen in der Realwirtschaft leiten und sucht sich als Tourguide für solches Unterfangen ausgerechnet John Maynard Keynes aus. Last but not least träumt Urry von technischer Innovation und gesteigerter Produktivität durch heroische Konsumenten und KMU, ist aber nicht bereit, diese seine (imaginären?) Helden von der bürokratischen Leine zu lassen, oder ihnen ein Pfund Fleisch für ihre Bemühungen zuzubilligen: In this contested future, taxation is a central issue, schreibt er.

Fast könnte man auf den Gedanken kommen, es gehe es Urry gar nicht um die Lösung des Jahrhundertproblems, das er allem Anschein nach sehr wohl verstanden hat.

Unabhängiger Journalist

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