Ein genauerer Blick auf die Wanderungsströme zeigt, dass die langfristige Belastung der Sozialsysteme in Finnland, Schweden und Österreich deutlich höher ausfallen wird als in Deutschland. Dort kommen pro Monat 70.000 Flüchtlinge an, die keinen Asylantrag stellen – auch nicht im benachbarten Ausland. Die Auslegung des Völkerrechts, die das hiesige Vorgehen leitet, ist selbst in Europa einzigartig. NB zum Begriff Mitteleuropa, Edit zu österreichischen Asylzahlen.
Zunächst eine Tabelle. Ausgehend von den im September 2015 eingebrachten Asylanträgen wird die Attraktivität einzelner Länder für Migranten mit Einwanderungsperspektive grob eingeschätzt – ebenso wie der Grad der finanziellen Last, die durch die Zuwanderung für die ansässige Bevölkerung entsteht (Umlagen und Steuern). Die letzten Spalten zeigen die Bereitschaft der zuständigen Behörden, Asylwerber aufzunehmen und wie sich diese im Laufe des Jahres 2015 verändert hat (in den meisten Fällen gibt es keine Daten dazu).
EW Mio. | Anträge Sept. | EW/Antrag | Anerkennung ’14 % | Anerkennung ’15 % | |
Schweden | 9,7 | 24265 | 400 | 77 | |
Finnland | 5,5 | 10815 | 509 | 67 | |
Österr. | 8,6 | 10216 | 842 | 44 | |
Deutschl. | 81,2 | 43065 | 1886 | 42 | 52 (I-X) |
Belgien | 11,3 | 6830 | 1654 | 40 | |
NL | 16,9 | 8400 | 2012 | 70 | 70 |
DK | 5,7 | 2690 | 2119 | 68 |
Und so geht’s weiter:
EW Mio. | Anträge | EW/Antrag | Anerkennung ’14 % | Anerkennung ’15 % | |
Frankreich | 66,4 | 6942 (09) | 9565 | 22 | |
Italien | 60,8 | 8825 (08) | 6890 | 59 | |
Ungarn | 9,9 | 30795 (09) | 321 | 9 | 17 (I-IX) |
Griechenland | 10,8 | 1050 (08) | 10286 | 15 | 35 (I-VIII) |
Spanien | 46,4 | 1664 | 27885 | 44 | |
UK | 64,8 | 3665 (08) | 17680 | 39 | |
Polen | 38 | 1690 (09) | 22485 | 27 | 19 (I – IX) |
Quellen: Eurostat (Einwohner/EW), BA f. Migration und Flüchtlinge, Eurostat, Zeitung, Migration Statistics Quarterly (Neuanträge), Eurostat (Anerkennung ’14), AIDA – Asylumn Information Database (Anerkennung ’15). Je geringer der Wert in der Spalte 3 Einwohner /Antrag ist, desto höher ist die Last, die Ansässige durch die Migrationswelle zu tragen haben. Der spanische Wert ist “synthetisch”, weil nur die ersten sechs Monate vorliegen: Durchschnitt I – VI/15 x 1,5.
Kommentar:
Die beiden Tabellen identifizieren vier Gruppen von europäischen Ländern. Die erste, dunkelrote Gruppe ist jene, deren Bevölkerung die höchste “nachhaltige” Last aus der Einwanderung zu tragen haben wird. Damit sind weder die derzeit im Fokus stehende Erstunterbringung noch die “kulturellen und sozialen Kosten” gemeint.
Gemeint sind die Aufwendungen, die durch die Einwanderung für die lokalen, steuer.-und umlagefinanzierten Solidarsysteme entstehen – Systeme, in die auch die heute nicht mehr ökonomisch aktive Bevölkerung eingezahlt hat. Das lässt sich als Entwendung kollektiven Eigentums unter tätiger Mithilfe der eigenen Regierung beschreiben. In diesem Prozess nehmen Schweden, Finnland und Österreich Spitzenplätze ein.
Wie stark die Belastung wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Es ist jedenfalls keineswegs so, dass “nur” gut verdienende Einkommenssteuer-Zahler dafür aufkommen werden. Auch andere Steuerzahler und Leistungsbezieher werden die Zeche zahlen.
Für die Republik Österreich sind seit 2013 keine Anerkennungsquoten verfügbar, was ein eigenes Verwaltungsskandälchen darstellt, das nach gezielter Verschleierung aussieht. Anfang Dezember wurde schließlich die Asylstatistik 2014 veröffentlicht und sie zeigte quer über alle Kategorien des internationalen Schutzes eine Anerkennungsquote von 44 Prozent.
Die österreichische Anerkennungsquote bei Asyl im engeren Sinn lag bei 49 Prozent, allerdings in erster und zweiter Instanz zusammengenommen. In Deutschland wurde diese Marke erst im Lauf des Jahres 2015 überschritten.
Deutschland ist ein interessanter Fall, der Rätsel aufgibt. Nicht zuletzt wegen der Einladungspolitik seiner Bundeskanzlerin gilt es als Migrationsmagnet par excellence. Trotzdem ist die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge seltsam niedrig. Daran haben selbst die zehn Prozentpunkte bei der recognition rate nichts geändert.
Für Oktober 2015 steht sowohl die Zahl der von der Polizei registrierten einreisenden Flüchtlinge als auch jene der Asylanträge zur Verfügung: 181.000 bzw. 52.730 (Erstanträge). Selbst wenn man annimmt, dass alle Flüchtlinge, die weiter nördlich und westlich um Asyl angesucht haben, über Deutschland gekommen sind (was nicht realistisch ist), haben allein in diesem Monat 70.000 Menschen nirgendwo einen Asylantrag gestellt.
Das gilt sinngemäß auch für vorangegangene und wohl auch folgende Monate.
Gibt es keine anderen Gründe dafür, scheint sich die Begeisterung für Hartz IV & das deutsche Sozialsystem in Grenzen zu halten. Bezieht man die Neuanträge auf die Einwohner, gleicht Deutschland bisher eher Belgien, den Niederlanden und Dänemark.
Die Solidarsysteme der genannten vier Länder werden das Phänomen zu spüren bekommen, allerdings viel weniger stark als jene Schwedens, Finnlands und Österreichs.
Weiter ab vom Schuss befinden sich Frankreich und Italien. In Frankreich suchen nur wenige um Asyl an, zuletzt etwa 7.000. Relativ zur Einwohnerzahl ist das nicht besonders viel. Ausschlaggebend dafür dürften die geringe Anerkennungsquote und eine verdeckte Politik der französischen Regierung sein. Diese hat es geschafft, durch niedrigschwellige Maßnahmen den aus Italien kommenden Flüchtlingsstrom einzudämmen - schon lange vor der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem 13. November. So etwas geht z.B. mit der polizeilich begründeten Schließung von Grenzübergängen.
Italien selbst hat am Mittelmeer einige stark belastete Orte, ist als Ganzes aber nicht besonders arg unter Druck. Wie Griechenland nutzt es den Umstand, dass nur wenige Flüchtlinge bleiben wollen und begnügt sich damit, die Einwanderer durchzuschleusen. Freilich ist es wirtschaftlich um einiges stärker als Hellas (noch).
Italien steht, so gesehen, in der Mitte zwischen dem Modell Frankreich und dem Modell Griechenland. Die Anrainer der Balkanroute sind relativ arme, relativ kleine Länder, deren Hauptinteresse darin besteht, die Migranten möglichst schnell nach Norden durchzuleiten.
Ungarn war/ist das letzte Glied in dieser Kette, aber in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Budapest ist der traditionelle Prügelknabe der Gerechten der Europäischen Union und kann sich vieles nicht leisten, worüber in anderen Fällen hinweggesehen wird. Das, und nichts anderes, ist der Grund für die enormen Antragszahlen der vergangenen Monate.
Die Ungarn bestanden darauf zu registrieren und drohten allen Unwilligen die Abschiebung an (nach den wahrscheinlich noch immer geltenden EU-Regeln müssen die Registrierten sofort um Asyl ansuchen). Es wäre wenig verwunderlich, wenn 90 Prozent der ungarischen Verfahren eingestellt würden, weil die Antragssteller längst weitergereist sind.
Zum Schluss haben wir die Gruppe der unbeteiligten Umstehenden, Polen, Spanien und Großbritannien. Polen wollte schon unter liberaler Regierung keine Flüchtlinge und will das heute noch weniger – eine angesichts der Umstände natürliche Reaktion.
Spanien sagt, dass es selbst eine riesige Baustelle in Sachen Immigration hat – und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen (Einwanderung aus dem Maghreb).
Und die Briten verschanzen sich hinter dem Ärmelkanal – obwohl sie es waren, die unter den europäischen Staaten am meisten zur Entstehung der levantinischen Völkerwanderung beigetragen haben (Irak, Syrien). In Sonntagsreden verbreiten englische Politiker die Fiktion, dass jeder echte Flüchtling um Asyl ansuchen könne – faktisch ist es aber unmöglich, überhaupt einen Antrag zu stellen.
3.000 in Calais herumlungernde Afrikaner können ein Lied davon singen. Die Eingänge zum Eurotunnel sind schwer bewacht und erfolgreiche Schlepper-Aktionen über den Ärmelkanal hinweg sind sehr selten und teuer wie sonst nirgendwo. Nach Zahlen des Office für National Statistics sind in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres 29.024 Asylanträge gestellt worden, etwa halb so viel wie im kleinen Österreich.
NB, 28.11.2015, 13.00: Es gibt ein paar Beckmesser, die sich an dieser meiner Verwendung des Begriffs Mitteleuropa stoßen. Bitte um sinnerfassendes Lesen. Nein: die Tschechen, Slowaken und Ungarn sind hier nicht gemeint. Und ja: gemeint sind Länder zwischen dem 10. und 25. Längengrad Ost – ungefähr, bitte – danke. Hinauf bis zum Polarkreis.
Edit, 3.12., 8.00: Werte Österreichs an die verspätet veröffentlichte Asylstatistik 2014 angepasst – zunächst in der ersten Tabelle (44 Prozent statt n.a.)
Folgende Passage wurde gestrichen/ersetzt: “Die österreichische Anerkennungsquote in der ersten Instanz dürfte schon im vergangenen Jahr bei 50 Prozent gelegen sein (inklusive “Schutz aus humanitären Gründen”). In Deutschland wurde diese Marke erst im Lauf des Jahres 2015 erreicht.”
Die Neufassung lautet: “Die österreichische Anerkennungsquote bei Asyl im engeren Sinn lag bei 49 Prozent, allerdings in erster und zweiter Instanz zusammengenommen. In Deutschland wurde diese Marke erst im Lauf des Jahres 2015 überschritten.”
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