Bruce Campbell, ein emeritierter Mediävist, wendet das modische Schlagwort Klimawandel auf die sg. Krise des Spätmittelalters an. Dabei zeigt er, wie eine geänderte Sonneneinstrahlung und, davon abhängig, andere Luft-/Wasser-Zirkulationen die Basis für Hunger und Seuchen im Europa des 14. Jahrhunderts geschaffen haben und wie diese Krise die Vorbedingung für das danach entstehende maritim und transatlantisch bestimmte Europa war. Drum nennt er sein Werk auch “Der Große Übergang”.
Die sich über zwei Jahrhunderte hinziehende Krise des Spätmittelalters mündet nach langer Latenzzeit in das von Vasco da Gama und Christoph Columbus grundgelegte 16. Jahrhundert mit der fortschrittlichen Brutalität eines Hernán Cortés, in das Erscheinen der spanischen und portugiesischen Eroberer in der Neuen Welt und – zunächst – in den Aufstieg der östlich orientierten Niederlande zur bestimmenden Handelsmacht (denen das anders orientierte England unmittelbar nachfolgte).
Es war ein welthistorischer Paradigmenwechsel – weg von einem, obzwar besonnten, aber doch stagnierenden Feudalismus, der über das Mittelmeer einen eurasischen Fernhandel pflegte, hin zur modernen, oft als genuin europäisch empfundenen “Kultur des Wachstums” (Joel Mokyr), der heute ihre kolonialistischen Sünden angelastet werden.
Es geht letzlich auch um etwas, was Historiker des Weltsystems Große Divergenz getauft haben.
Campbell fasst diesen Umschwung folgendermaßen zusammen (eigene Übersetzung, S. 392):
In den 1490er-Jahren bekamen die Europäer schließlich wieder den direkten Zugang zum Handel des Ostens, den sie in den 1340ern verloren hatten. Sie erlangten auch Zugang zum mineralischen Reichtum der bis dahin unbekannten Amerikas, von dem man bisher nicht einmal träumen hatte können. In einem Zeitraum von (nur) 50 Jahren war die kommerzielle Isolation Europas beendet und seine chronische Edelmetall-Knappheit ins Gegenteil verkehrt.”
Das freilich sind die Schlusskapitel von, nein: ist das Nachwort zu Campbells Erzählung, das ohne die beiden vorangegangenen Jahrhunderte völlig anders ausfallen hätte müssen.
Doch die weit reichenden Veränderungen und wechselnden Glücksfälle (reversals of luck) zwischen der (China-)Reise Marco Polos und Vasco da Gamas Indien-Reise zwei Jahrhunderte später wären unerklärbar; unerklärbar ohne den physischen, ökologischen und biologischen Stress, der durch die globale Reorganisation des Klimas erzeugt wurde. Das Schicksal der spätmittelalterlichen europäischen Populationen war eng mit Umweltentwicklungen im mehr als 6.000 Kilometer östlich befindlichen, semiariden und gering bevölkerten Innerasien verbunden. Ohne den ökologisch ausgelösten Ausbruch der Pest hätten die sozio-ökologischen Trends unzweifelhaft einen anderen Kurs genommen.” (S.393)
Die drei Phasen des Übergangs
Campbell beginnt seine Story mit dem, was früher Mittelalterliche Warmperiode (MWP) geheißen hat und nun Mittelalterliche Klima-Anomalie (MCA) genannt wird – dem Hochmittelalter, einer Zeit von intensiver Sonne, stabilem Klima und einem auf dem Landweg, über Karawanenstraßen abgewickelten “eurasischen Ost-West-Handel”.
Diese Epoche war um etwa 1270 zu Ende, wegen des solaren (“Wolf”) Minimums und dessen Folgen für Winde und Meeresströmungen – verbunden mit den Auswirkungen der raschen Westexpansion asiatischer Reitervölker.
Von den Mongolen bekamen die Westeuropäer direkt wenig mit, sehr wohl aber von den Missernten, den Hungersnöten und Tierseuchen, die die erste Periode von Campbells Großem Übergang charakterisieren.
Dies alles sollte aber erst ein “Vorgeschmack” sein.
Die für die westlichen Völker schlimmste Zeit dauerte von 1340 bis 1370, als der Schwarze Tod ganze Landstriche entvölkerte und die Zahl der Lebenden schon einmal halbierte. Die europäischen Populationen sanken von (geschätzt) 82 Millionen im Jahr 1340 auf 58,5 Mio. um 1400 (S. 59).
Die Krankheit hatte zuletzt in der Spätantike den Westen Eurasiens (als Epidemie) heimgesucht (weshalb ihr erstes massives Auftreten Justinianische Pest genannt wird).
Danach hielt sich die Epidemie 700 Jahre lang unter zentralasiatischen Nagetieren verborgen – ehe sie über Fernhandelswege wieder an das Schwarze Meer, das Mittelmeer und nach Westeuropa gelangte.
Diese mittleren Pest-Jahre sind der Wendepunkt des schrecklichen Spätmittelalters, aber noch nicht sein Ende.
Die dritte Phase bis 1470 bezeichnet der Autor als “langen Abschwung”, was ein wenig in die Irre führt.
In Wirklichkeit hat es sich um eine Art abgebrochenen Boom nach den extremen Pest-Jahren in der Mitte des Jahrhunderts gehandelt, eine Fehlzündung, die gegen Ende des 14. Jahrhundert wieder in sich zusammengebrochen ist.
Man kann ein erneutes Solares Minimum (“Spörer”) und dessen klimatische Folgen, die ständigen Kriege oder den anhaltenden Silber-Engpass dafür verantwortlich machen, dass die europäische Wirtschaft nicht und nicht auf die Beine kam.
Faktum ist jedenfalls, dass
die wirtschaftliche Aktivität Europas im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts einen erneuten Tiefpunkt erreichte, während fehlendes Bevölkerungswachstum die heimische Nachfrage drückte, Bullion-Knappheit multilaterale Formen des Austauschs behinderte, Krieg, Piraterie und Versklavung den Seehandel vernichteten und die Osmanen Konstantinopel eroberten, Kontrolle über das Schwarze Meer erlangten und den Balkan überrannten.” (S.17)
Ausbruch aus der Sackgasse
Eine entscheidende Rolle spielt nach Meinung des Belfaster Historikers der Umstand, dass im späten Mittelalter die Handelsverbindungen nach China, Südostasien und Indien weitgehend gekappt wurden (obwohl dieser Handel real nur eine ganz kleine Minderheit beschäftigte).
Dies führt Campbell u.a. auf den Mongolensturm, das Ende der Kreuzfahrerstaaten, die Entstehung eines venetianisch-mamelukischen Handelsmonopols und die immer drückender werdende Dominanz des Osmanischen Reichs zurück.
Die einzige verbleibende Alternative sei sozusagen der Seeweg gewesen – die Umschiffung Afrikas um “direkt” nach Indien zu gelangen oder der Versuch, den Subkontinent mittels Schiffahrt gen Westen zu erreichen (was Columbus wollte).
Die Entdeckungsreisen boten weiteres Fluchtpotenzial aus dieser Sackgasse. Ihre Risiken und Kosten waren groß, aber diese würden sich vielfach bezahlt machen, wenn neue Quellen von Edelmetall erschlossen und neue Märkte für europäische Exporte gesichert werden konnten und Wege in den Osten entdeckt wurden ohne dass man auf die Herausforderung moslemischer Mittelsmänner stoßen würde.”
Ähnlich hat das schon Campbells Landsmann Nigel Cliff in einem Buch über Vasco da Gama gesehen.
Doch die Bedeutung von Campbells Great Transition liegt weniger im makrohistorischen Spekuliereisen des Kampfs der Kulturen.
Ihre Bedeutung liegt in der Verschränkung ökologischer (klimatischer) Einflüsse mit Faktoren wirtschaftlicher, sozialer und politischer Natur;
darin, dass sie paläoklimatische Erkenntnisse mit sozioökonomischen Daten-Serien und biologischem Wissen über Seuchengeschichte zusammenführt.
Campbell, eigentlich ein Mittelalter-Historiker, wagt es, Begriffe wie Solares Minimum oder El Niño Southern Oscillation (“ENSO”) überhaupt in den Mund zu nehmen, als Fachfremder.
Allein die Thematisierung von abruptem Klimawandel ohne menschengemachtes Kohlendioxid scheint irgendwie subversiv zu sein.
Das Erfreuliche ist, dass der mittlerweile pensionierte (und daher nur mehr schwer verwundbare) Querdenker nicht allein ist.
Historische Klimaologie erfreut sich mittlerweile erheblichen Interesses, beispielsweise bei John Brooke, Richard Hoffmann oder Geoffrey Parker.
Fast nirgendwo spielen menschengemachter CO2-Ausstoß und Energiesysteme eine Rolle.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es diesen heute ncht geben kann.
Aber es tut schon gut zu hören, dass es in der Historie – manchmal schnelle – klimatische Veränderungen gegeben hat und dass dies nicht auf du weißt schon was zurückgehen muss.
Bruce M.S. Campbell, The Great Transition. Climate, Disease and Society in the Late-Medieval World. 2016
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