Anti- und Pro-Putinisten sind sich bei allen sonstigen Gegensätzen in einem einig: Russland könnte, wenn es wollte, “mit einem Federstrich” die Gaslieferungen an Westeuropa wieder herstellen. Es tue das aber nicht, weil es imperialistisch sei und die EU erpressen wolle (Anti-P) bzw. tue das nur so lange nicht, als die EU an ihren von den USA angezettelten “Selbstmord-Sanktionen” festhalte und die Ukraine um jeden Preis unterstütze (Pro-P.). Was aber, wenn die Russen gar nicht mehr voll lieferfähig sind? Beide Konfliktparteien scheuen diese Version wie der Teufel das Weihwasser – eine Hypothese.
Vorbemerkung: Die “Quellenlage” in Russland ist extrem schlecht – weswegen sich “Beobachter von außen” fast ausschließlich auf Indizien und Spekulationen verlassen müssen. Sogar für saudisches crude ist die “Quellenlage” besser, zu dem über viele Jahre nicht-arabische Ölingenieure technische Papiere verfasst haben, die Matt Simmons vor 16 Jahren analysiert hat (Simmons zog tlw. falsche Schlüsse draus und unterschätzte die “vielfältigen Möglichkeiten des Hinauszögerns”).
Das aktuelle, vordringlicher erscheinende Thema ist allerdings nicht Öl aus Ghawar und unser auf diesem ganz besonderen Saft basierendes Weltsystem, sondern russisches Erdgas und Westeuropa, speziell Deutschland
(die Situation um “Öl” und “-Produkte” aus der GUS mag noch schlimmer sein, steht derzeit aber nicht im Brennpunkt des Interesses, vielleicht noch nicht.)
Früher Kontrapunkt zum Kalten Krieg
Während die Ölförderung in dieser Gegend bis zum Zaren zurück reicht (Baku), ist die Produktion von Erdgas viel jüngeren Datums. Sie begann in den “sowjetischen 1960ern und 1970ern”, als Vorkommen nahe der kasachischen Grenze sowie in Westsibirien im Oblast Tjumen entdeckt wurden.
Danach wurden Pipelines zu diesen Vorkommen gebaut, wovon wenigstens die auf der Druschba-Trasse vom Westen mitfinanziert wurden (wenn nötig mit Barter).
Die Gasfelder sind zwar viel jünger als die (alten) Ölfelder,
- sie sind 2022 aber trotzdem schon ziemlich alt und
- erfordern, zweitens, deutlich mehr Kapital und Know How als Erdöl (vor allem beim Abtransport).
Bis ca. 2006/07 konnten erst die SU und danach ihre Nachfolgestaaten auf die Kooperation des europäischen Westens zählen,
der mit langfristigen Abnahmeverträgen die Finanzierung von neuer Förderung und Exportrouten für Gas ermöglichte.
Auf diese Weise konnten etwas später die Produktion aus dem bereits “reifen” Urengoi ein wenig in den Nordwesten gerückt und die Jamal-Pipeline gebaut werden,
die erstmalig nicht (oder nur marginal) durch die selbstständig gewordene Ukraine ging (sondern durch Weißrussland und Polen).
2006 folgte die Nordstream 1 (NS1) direkt nach Deutschland, diesmal auch unter Umgehung Polens.
Die Strecke der zwei Nordstreams ist zwar nur kurz und kann an eine bereits bestehende, viele tausend Kilometer lange Pipeline anschließen, aber
- die NS1 musste auf dem Meeresboden verlegt werden,
- und machte einen “Jamal-Abzweiger” nach St. Petersburg erforderlich.
Doch bei NS1 war die Aussicht auf einen jahrelangen sicheren Einkommensstrom, der die Finanzierung ermöglichte, noch intakt
(ähnlich das – diesfalls falsche – Kalkül bei der späteren Nordstream 2).
Der Bau der ersten Nordstream fand nicht allein – und nicht einmal primär – auf Initiative der Russen statt.
Im Westen gab es schon seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beträchtliche “Pull-Faktoren”, die von der Entspannungspolitik zu Sowjetzeiten (Brandt & Co.) bis zu späteren Nuklear-, Umwelt- und Industriepolitiken reichten.
Erst 2005 bis 2010 wurden dann die ersten Hebel von Kooperation zu Konfrontation umgelegt, was sich in zahlreichen Gebieten bemerkbar machte,
unter anderem bei Finanzierung und Finanzierungsbedingungen neuer Pipelines.
Die 20 Jahre davor entstandene Erzählung über einen ultra-langfristigen Sowjet-Plan, Europa spinnengleich erst zu “fesseln” um es danach “verspeisen” zu können, geht jedenfalls eher auf (tlw. verständliche) Psychosen diverser Sowjet-Dissidenten zurück.
Dass dagegen große Marktmacht Russland auch “politischen Leverage” verschafft, sei unbestritten; und auch am Topos der “Energiepeitsche” ist was dran
(ebenso wie übrigens an der militärstrategischen “Einkreisung” des Landes durch den kollektiven Westen).
Nur war die sg. Energiepeitsche unter den Bedingungen der imperialen Sowjetunion keine Einbahnstraße und trat zusammen mit der Karotte billiger Energie auf.
Die Zentralmacht bestand auf unbedingtem Gehorsam, musste für diesen aber selbst auch “bezahlen” – in Form von unterpreisiger Energie.
Es gibt anekdotische Hinweise darauf, dass das gleiche Modell auch für die RF und viele SU-Nachfolgestaaten gilt (gegolten hat)
- Moskau verfügt(e) nicht nur über den “big stick” seines Militärs,
sondern auch über die sanftere Überzeugungsmacht seiner “dichten Energie”, die für Wohl und Wehe seiner Vasallenregime entscheidend sein kann.
Die heutige Situation
Freilich hat sich in den vergangenen 25 Jahren viel verändert und was zu Zeiten der Sowjetunion noch Ideologie und Largesse wg. eines vermeintlich unerschöpflichen Ressourçenreichtums war,
ist heute der Psychologie von Mangelsituationen gewichen
- wie es sie anno dazumal vielleicht noch bei Kapital gab (inzwischen auch. was die schiere Produktionsmenge betrifft).
Das mag hohen und höchsten Funktionsträgern bewusst sein – kaum aber dortigen Verbrauchern und wohl nicht einmal “kleinen Funktionären”.
Diese Russen leben noch im Zeitalter vermeintlich kostenloser, unerschöpflicher Naturreichtümer,
was eine blanke Illusion ist.
Die Wahrheit ist wohl, dass mit immer größerem Aufwand immer weniger gefördert wird und dass sich “In- und Ausland” einen Wettbewerb um den kleiner werdenden Kuchen liefern.
Wie Nazarov hier auf S. 218 schildert, ist die Gazprom gesetzlich verpflichtet, inländische Konsumenten billig zu versorgen
- wofür sie sich in Westeuropa bisher schadlos halten konnte.
Worauf eine solche Situation im Zeitalter rückläufiger Nettoenergie/steigender Energiekosten von Energie (“ECoE”) sowie feindseliger West-Staaten hinaus läuft, bleibt abzuwarten
- die direkte Konkurrenz beider Abnehmergruppen liegt aber auf der Hand.
Vielleicht wäre eine irgendwie ausfallende Auslandsnachfrage (natürlich bei gleichzeitig ausbleibenden Deviseneinnahmen) für lokale Politicos noch immer das geringere Übel.
***
Freilich müssen Produktionsmaxima und -abfälle keine heilsgeschichtlichen Fakten sein, die Gott in einem “Buch der Vorsehung” zeitlich unverrückbar vorgesehen hat.
Echtes Kapital und ebensolches Know-how könnten durchaus noch einmal einen Unterschied machen. Die Shtokmans des Landes müssen nicht auf alle Zeit unentwickelt bleiben.
Grafik: Д.Ильин, CC0, via Wikimedia Commons
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