Die EU-Spitzenpolitik wird nicht an der Militärparade teilnehmen, die Moskau am 70. Jahrestag seines Siegs über das Deutsche Reich abhält. Das besiegelt das Ende des gemeinsamen Verständnisses des 20. Jahrhunderts. Während im Westen Jugendliche zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, die mit Hitlergruß das Gedenken an NS-Opfer stören, ist für östliche Feinde des Naziregimes jede Geste zu viel.
Die EU-Staaten haben sich offenbar entschlossen niemanden zur Moskauer Parade am 9. Mai zu entsenden. Nur der tschechische Präsident scheint (noch) kommen zu wollen und die deutsche Kanzlerin Merkel wird am Folgetag Blumen auf ein Soldatengrab legen.
Das ist ein schlagender Kontrast etwa zum 60. Jahrestag, als der deutsche Kanzler Schröder, der französische Präsident Jacques Chirac und der amerikanische Präsident George Bush anreisten.
Natürlich findet am 9. Mai 2015 auch eine Waffenschau statt und das zwei Generationen zurückliegende Kriegsende scheint bloßer Anlass zu sein, um mit Rüstungstechnik zu prahlen und Nationalstolz zu demonstrieren. Der Umzug wird, müsste man eigentlich urteilen, als Bühne für Militarismus und Chauvinismus verwendet.
Und klarerweise war der sowjetische Vormarsch nach Mitteleuropa eine Katastrophe, die Millionen Deutsche und Osteuropäer das Leben, ihre Freiheit und ihre Heimat gekostet hat.
Solche Urteile haben aber nur Bestand, solange Militärparade und sowjetische Westexpansion für sich allein, ohne Kontext beurteilt werden. Oder solange der Beobachter nicht weiß, auf welche Sensibilität, ja Überempfindlichkeit geschichtspolitische Gesten selbst des Kleinen Mannes treffen. Mit diesen ist nicht zu spaßen, schulmeistert’s gegebenenfalls in der Presse, denn falsche Gesten auch Privater können das internationale Renommé eines Landes in Mitgleidenschaft ziehen.
Man könnte dieser einseitigen Interpretation vielleicht auch anhängen, wäre nichts über die Gedenkveranstaltungen bekannt, die im Juni 2014 in der Normandie stattfanden. Damals wurde der 70. Wiederkehr des D-Day gedacht, der Landung der Westalliierten in Europa.
Ohne sie hätte es keine militärische Befreiung Frankreichs gegeben. Für diese Veranstaltung war übrigens Russen-Präsident Putin noch eingeladen (jedenfalls ist er gekommen ).
Nun ist es nicht notwendig, groß in die Militärgeschichte einzusteigen oder den Opfermut der Landungstruppen zu bezweifeln um Folgendes festzustellen:
Die Deutschen haben im Sommer 1941 die Sowjetunion angegriffen und der Krieg war fast schon drei Jahre alt, als die atlantischen Alliierten eine Front im Westen eröffneten. Für Hitlerdeutschland war zu dem Zeitpunkt die Schlacht im Osten bereits verloren. Von den mehr als hundert Divisionen, die für Operation Barbarossa eingesetzt waren, war nur mehr ein kleinerer Teil existent – und dieser wurde dringend benötigt, um den Vormarsch der Roten Armee zu verlangsamen.
Nach der geglückten Landung im Westen taten sich die Alliierten schon mit den 35 dort eingesetzten deutschen Divisionen schwer. Hätte Hitler nur ein Drittel der für Barbarossa verwendeten Kräfte (zusätzlich) in den Westen verlegen können, wäre Overlord gescheitert.
OK, das ist das negative Geschichtsschreibung, sozusagen Hättiwari, aber die Stärkeverhältnisse sind so klar, dass der folgende Satz wahrlich keine gewagte Spekulation ist: Ohne den sogenannten Großen Patriotischen Krieg der Sowjetunion/Russlands (und ohne die – angeblich – 25 Millionen toten Sowjetbürger) kein Sieg über Hitlerdeutschland. Man kann besagte Opferzahl mit guten Argumenten bezweifeln und die genannten militärhistorischen Fakten gern mögen oder auch nicht – diese bleiben trotzdem, was sie sind: der reale Hintergrund der heutigen ritualisierten und/oder komplett hohlen Zermonien.
Die neue Philosophie des Westens passt übrigens wunderbar in den geschichtshistorischen Revisionismus, den sich prowestliche Politiker zueigen gemacht haben – beispielsweise der polnische Außenminister, für den eine Ukrainische Front das KZ Ausschwitz befreit hat (auch Wien wurde übrigens von einer Ukrainischen Front eingenommen !)
Auch der heutige Kiewer Premier Arsenij Jazenjuk hat sich kürzlich in politisch motiviertem Revisionismus geübt. In einem Interview mit der ARD sagte er im vergangenen Jänner: “Wir können uns sehr gut an den sowjetischen Einmarsch in die Ukraine und nach Deutschland erinnern. Das muss man vermeiden und keiner hat das Recht, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs neu zu schreiben. Das versucht der russische Präsident, Herr Putin, zu machen.” Die Äußerungen finden sich auf Youtube, nämlich hier, ab 1:12.
Wenig verwunderlich hat die ARD-Interviewerin darauf verzichtet, die Aussagen Jazenuks faktisch zu berichtigen bzw. auf die historische Abfolge der Einmärsche hinzuweisen.
Wenig verwunderlich hat sich auch die deutschsprachige Lügenpresse nicht bemüßigt gefühlt, nur ein Wort über diesen lapsus linguae (?) zu berichten. Diese fühlt sich offenbar nur angesprochen, wenn es darum geht, gegen wenig witzige Provokationen halbstarker Wiederbetätiger vom Leder zu ziehen.
Vielleicht sollte sie sich stattdessen Gedanken machen, was es mit einem Paragraphen auf sich hat, der hauptsächlich dazu verwendet wird, einen Teil der Opposition niederzuhalten und die Äußerung bestimmter Geschichtsansichten zu kriminalisieren. Die Geschichte kann auf Dauer unmöglich unter einen Glassturz gestellt werden. Das sollte eigentlich auch den Russen bewusst sein:
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