In der demokratischen Politik der Gegenwart finden sich verschüttete, aber noch lebendige Mentalitäten, die in der tiefen Geschichte wurzeln – zum Beispiel in der feudalen Beziehung zwischen dem Lehensherren und seinem Abhängigen/Vasallen. Das Lehenssystem begünstigte a lá longue den Herren, das Verhältnis zwischen den beiden war aber nicht einseitig. Es fußte auf einem Schutzversprechen für Leib, Leben und Gut des Unterworfenen. Derlei erwarten sich die Bürger von ihren Oberen noch heute, diese können/wollen aber nicht mehr liefern. Das Paradebeispiel dafür ist die Füchtlingskrise.
Die (prinzipielle) Wechselseitigkeit der mittelalterlichen Ordnung wird bis heute verkannt. Schriftsteller der Aufklärung vermengten sie mit Sklaverei und Leibeigenschaft, was allerhöchstens im Ungefähren stimmt. In unseren Breiten bestand die Basis der gesellschaftlichen Pyramide aus persönlich Freien (Freigelassenen), die ihren Grundherren aber Dienstleistungen/militärische Gefolgschaft/Steuern schuldig waren und über die Letztere zu Gericht saßen. Den Untertanen stand dafür aber eine Leistung zu und je unsicherer die Zeiten waren, desto höher stand diese im Kurs.
Hier ein paar Sätze aus der Feder des französischen Mediävisten Marc Bloch (Feudal Society, p. 341, eigene Übersetzung).
Der Vasall musste von seinem Herren gegen ‘alle, die leben und sterben’, verteidigt werden, zunächst als (physische) Person selbst, aber auch sein Besitz, insbesondere von Lehensgütern. Weiters erwartete er von seinem Protektor – der, wie wir noch sehen werden, zu seinem Richter geworden ist – gute und schnelle Justiz. Darüber hinaus gab es die nicht quantifizierbaren, aber wertvollen Vorteile, die in einer höchst anarchischen Gesellschaft – zu Recht oder Unrecht – für jene anfielen, die von einem mächtigen Mann beschützt wurden.”
Zugestanden, das war ein anderes Zeitalter, die Beziehung zwischen Vasallen und Lehensherren war eine persönliche. Nationalität spielte damals noch keine Rolle. Doch Teile dieser feudalen Beziehung haben als stille Erwartungen und nicht ausgesprochene Angebote (“Signale”) bis heute überlebt.
Eine solche Feststellung ist, so lange von der Protektion einzelner Gruppen durch Parteien die Rede ist, eine Banalität. Sobald es jedoch um die verallgemeinerte Form von Schutz und Schirm – den für alle Bürger – geht, beginnen die najas und ahems – hauptsächlich aus zwei Motiven.
Das erste ist konzeptionell-ideologischer Art und entstammt dem libertären Eck. Der andere, nur halblaut geäußerte Vorbehalt kommt von den demokratischen Praktikern der modernen Macht selbst. In ihrer Brust wohnen, ach, zwei Seelen. Die Politiker wissen, dass die Versprechen die Hauptwaffe sind, mit der sie den Kampf um Wählerstimmen bestreiten, aber auch, dass sie oft nicht mutig genug bzw. in der Lage sind, diese einzuhalten.
Die Beispiele dafür sind Legion. Die nobelsten dieser Verheißungen sind Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz und Verteidigung individuellen und kollektiven Eigentums; der Bestandsschutz für historisch erworbene Ansprüche sowie das Allerheiligste des “freiheitlichen” Staats, die Rede- und Versammlungsfreiheit (“Das ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen”, “Das ist keine Demonstration, sondern Landfriedensbruch”, heißt es heute).
Das Ende der Protektion
Diese Unfähigkeit, früheren Ansagen gerecht zu werden, geht manchmal darauf zurück, dass etwas zugesagt wurde, was auf längere Sicht nicht eingehalten werden kann – genauso oft müssen zur Begründung aber auch angebliche internationale Verpflichtungen herhalten. Das muss von Fall zu Fall analysiert werden, meist sind es aber leere Schutzbehauptungen; die Ausflüchte moderner Feudalherren, die es aufgegeben haben, ihren Promessen nachzukommen.
Diese unsere Lords fühlen sich zuerst nicht den Belehnten, sondern einem imaginierten Großen und Ganzen, Europa und/oder der “Welt/Menschheit” verpflichtet. Die Verträge, auf die sie sich ausreden,
- haben selten die Reichweite/den Geltungsbereich wie behauptet,
- müssen auf nationalstaatlicher Ebene ausgelegt werden,
- sind kündbar/suspendierbar und wurden in vielen Fällen
- von den handelnen Personen selbst unterschrieben, im besten Wissen und mutwillig, manchmal nur fahrlässig.
Die Quintessenz ist jedenfalls: unsere Politiker haben keinen Bock, die von erwartete Schutzfunktion zu erfüllen (oder sie werden, wie manche meinen, erpresst dies nicht zu tun).
In beiden Fällen ist es ziemlich heuchlerisch, sich darüber aufzuregen, dass die „FPÖ in der Asyldebatte fußfrei in der Komfortzone sitzt, sich das Spiel anschaut, nichts zur Lösung beiträgt und an Stimmen zulegt“ – vor allem dann, wenn man im Vorstand einer Regierungspartei sitzt, die es eigentlich in der Hand hätte, einen anderen Kurs zu entrieren.
Der springende Punkt ist weder die FPÖ noch ist es die Anständigenmoral, die diese Typen vorgeben zu vertreten.
“Kollateralschaden” bei den Richtigen
Es geht um die verbliebenen Wähler der ehemaligen Großparteien, die gerade einen Erkenntnisschub erleben: dass nämlich Bundes- und Landespolitik aus demselben Stamm kommen und dass die Polit-Gewächse so schnell wie möglich entfernt werden müssen, soll weiterer Schaden abgewendet werden; sowie dass die Wähler mit ihrer Ablehnung der zuströmenden Fremden eher beim Salzamt Gehör finden als bei ihren angeblichen Vertretern – wie das auch in anderen wichtigen Dingen der Fall ist, schon seit Jahrzehnten.
So gesehen ist die Asylkrise kein ungewollter Kollateralschaden, den Landespolitiker, sozusagen als zufällig anwesende Unbeteiligte erleiden (Niessl hatte seine Lektion bereits, Pühringer und Häupl folgen im Herbst). Es handelt sich um eine überfällige Normalisierung der Landespolitik, oder besser: deren Anpassung an den bundespolitischen Trend.
Irgendwann werden die selbst ernannten Anständigen nicht mehr darum herumkommen, autoritär zu regieren, Vorboten dafür gibt es bereits eine Menge. Damit machen sich sich die Politicos selbst überflüssig. Autoritär können andere besser regieren.
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