US-amerikanische Freunde politischer und wirtschaftlicher Selbstbestimung müssen aufhören, auf poltische Parteien zu hoffen und die Freiheitsgarantien ihrer Verfassung in Eigeninitiative und ohne Erlaubnis dafür einzuholen wieder aufbauen. Das ist die Kernbotschaft des neuen Buchs von Charles Murray, der darin Anleihen bei modernen kolonialen Befreiungsbewegungen nimmt. Unternehmer sollten in einem Akt des zivilen Ungehorsams die Umsetzung schikanöser Gesetze verweigern und sich kollektiv gegen die unweigerlich über sie kommende staatliche Repressionen wehren.
Eine solche organisierte Verteidigung wird höchst notwendig sein. Das hat sich schon 2013 beim sogenannten IRS Targeting Skandal gezeigt, wo die Rechtsposition des Systems schwächer war als dies bei provokant-offenen Verstößen gegen Regulative der Fall wäre. Die US-Steuerbehörde hat damals, offenbar politisch motiviert, mißliebige Organisationen und Unternehmen aufs Korn genommen, u.a. um sie selektiv/willkürlich von Steuerbegünstigungen auszuschließen.
Die Ziele waren damals ein paar Dutzend “liberale” (linke), aber ein paar Tausend “konservative” (rechte) Entitäten. Speziell die Unternehmen durften sich in der Folge der ungeteilten Aufmerksamkeit der Betriebsprüfer und Steuerfahnder erfreuen. Üblicherweise geschah das im Rahmen legaler Prozeduren sowie über die Ausschöpfung erlaubter Ermessenspielräume und gängige bürokratische Praktiken (dilatorische Vorgehensweise). In manchen Fällen nahm das die Form einer exemplarischen Betrafung durch wirtschaftliche Vernichtung an.
Diese erfolgte typischerweise auf Basis rechtskräftiger Urteile bzw. nicht angefochtener Bescheide – was angesichts eines vier Millionen Wörter umfassenden Steuergesesetzbuchs und beschränkter privater Ressourcen freilich kein Wunder ist. Murray sagt: Schon in den ein bißchen komplizierteren Fällen ist es praktisch unmöglich, alle Steuergesetze zu befolgen. Der politischen Willkür gegen kleinere Unternehmen sind dadurch Tür und Tor geöffnet.
In den heutigen USA, sagt er, herrscht eine Kleptokratie wie in einem stereotypen Dritte Welt-Land (obwohl sich die Regeln, nach denen sie arbeitet, etwas unterscheiden). Die US-Verfassung ist unrettbar verloren, Gesetzlosigkeit beherrscht das Rechtssystem. Das politische System ist korrupt und die Institutionen sklerotisch. Eine wirkliche Reform sei mittlerweile nicht einfach nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Das Übel ist für Murray in einem loophole der alten Verfassung entstanden (Artikel 1, Sektion 8), hat sich aber erst über Supreme Court-Entscheidungen seit den 1930er-Jahren zur heutigen Größe aufgebläht.
Murray weiß, was civil disobedience für die ungehorsamen Unternehmen bedeuten würde: sofortige Rechtsstreitigkeiten mit der klepto- und bürokratischen Staatskrake, die für die Mehrzahl der Provokateure letal enden würde. Deswegen schlägt er die Einrichtung von Fonds vor, die die entstehenden Rechtskosten tragen/finanzieren sollen. Murray nennt sie Madison Fonds, nach einem seiner Gründerväter-Heroen.
Solche Fonds würden nur Unternehmen, die sich auf Grundlage einer kollektiv gefällten Entscheidung auflehnen, juristisch verteidigen (die aussichtsreichsten Kandidaten für zivilen Ungehorsam sind für ihn Regulative der Umweltbehörde, des Arbeitsinspektorats und der Antidiskriminierungsbehörde). Der amerikanische Leviathan, sagt er, solle wie ein versicherbares Risiko behandelt werden.
Das Steuerrecht soll für den Fonds trotz allem off limits bleiben – weil nicht der Anschein erweckt werden soll, dass er es als seine Aufgabe betrachtet, Hinterzieher und Betrüger zu beschützen.
Diese Einschränkung mag pragmatisch begründbar sein, logisch und historisch ist sie nicht – schließlich entstand die amerikanische Revolution aus einer Steuerrevolte, worauf auch der Name der tea party anspielt. An ihrem Vorabend war es unter radikalen Siedlern geradezu ein Volkssport, britische Steuereintreiber zu teeren und federn (dies war – physisch gesehen – weniger brutal als es klingt; es wude Holzteer verwendet, der bei weitem nicht so heiß wird wie der heutige Teer).
Im Unterschied zu vielen seiner libertären Freunde hält Murray die Steuereinhebung für eine prinzipiell legitime Staatsaufgabe. Ferner hat er ein gestörtes Verhältnis zum in seiner Umgebung grassierenden Sozialkonservativismus.
Die Madisonisten, wie für ihn die authentischen Interpreten der amerikanischen Revolution heißen, sollen sich von den Sozialkonservativen trennen, schlägt er vor. Spiegelgleich sollten die echten Linksliberalen den Gewerkschaften des öffentlichen Diensts den Weisel geben und den sogenannten Progressivisten Adieu sagen.
Die Unterscheidung, die Murray hier trifft, war mir bisher nicht geläufig – sie hat aber etwas für sich: Warum, in aller Welt, sollte eine “linke” politische Kraft ernsthaft das Ungeheuer Leviathan (Sohn) anbeten?
Es passt jedenfalls gut ins Bild, wenn Murray seine(n) künftigen Verteidigungsfonds mit der amerikanischen Civil Liberties Union von vor 1970 vergleicht. Wie die alte, “nicht korrekte”, nach allen Seiten offene ACLU würden auch “seine” Verteidigungsfonds nicht-parteipolitisch und als Bürgerrechtsorganisation verstanden werden.
Es stellt sich nach all dem jedenfalls die Frage, was von den Murray’schen Ansichten eigentlich als konservativ einzuordnen ist (wie es die Washington Post tut).
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Auf dem europäischen Kontinent liegen die Dinge wieder anders als in Amerika, im Ärgeren noch. Es hat bei uns nie eine Revolution bzw. einen Verfassungsprozess gegeben, wo die Idee von einer beschränkten Regierung eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Eine solche Idee war weder im aufgeklärten Absolutismus noch im Jakobinismus/Bolschewismus heimisch.
Der Begriff Etatist hat hier keine negative Konnotation und wird von hohen Beamten selbstverständlich zur politischen Selbstcharakterisierung verwendet. Die europäischen Progressivisten heißen Sozialdemokraten und Madisonisten gibt es keine. Der starke Staat ist das Mantra auch aller irgendwie relevanten Unternehmerorganisationen – sind sie doch ein (bestimmender) Teil dieser Staaten.
Auch wenn sie es vehement abstreiten würden – auch die Unternehmerorganisationen sind mehr oder weniger dem europäischen Progressivismus zuzuordnen.
Angelpunkt des sozialdemokratischen Selbstverständnisses und der Agenda ist die nur in Ausnahmefällen reale Fürsorge für den kleinen Mann (und die kleine Frau). Die demonstrative Fürsorge ist ein imaginäres Etwas, über das man Bücher schreiben könnte. Auf jeden Fall ist es ein Unikum, das sich sonst kaum irgendwo findet. Auch und gerade nicht in verschiedenen autoritären und populistischen Kulturen Asiens und Lateinamerikas. Dort sieht der Etatismus etwas anders aus und ist vor allem etwas realitätsnäher.
Vielleicht kommt die konfuzianistische Staatslehre ab der späten Han-Dynastie dem heutigen europäischen Progressivismus noch am nächsten. Eine passende Blaupause für das 21. Jahrhundert ist weder das eine noch die andere.
Literatur: Charles Murray, By the People. Rebuilding Liberty without Permission. 2015. Es kann u.a. hier bezoogen werden.
Carlos Lozada, The Case for conservative Civil Disobedience (Washington Post)
Foto: Philip Dawe [Public domain] via Wikimedia Commons
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