Dem US-Präsidenten wird nachgesagt, er habe sich von der Realität verabschiedet und wolle auf dieser Basis ein autoritäres Regime errichten. Philosophen untermauern die oft parteipolitisch entstandenen Behauptungen mit theoretischen Überlegungen zu fake news und Postfaktizität – und gelangen zu Diagnosen, die haargenau auf die jüngsten Vorgänge im sächsischen Chemnitz (und deren politisches Nachspiel) passen.
Die Rede ist von zwei dänischen “Wissenschaftlern”, die kürzlich Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien veröffentlicht haben.
Der ursprünglich auf Dänisch geschriebene Text wurde (unüblicherweise) zuerst in einer deutschen Übersetzung und erst vor wenigen Tagen, am 11. September 2018, in der englischen Version publiziert.
Vincent Hendricks und Mads Vestergaard antizipieren hier ein autoritäres Staatswesen im Gewand einer demokratischen Gesellschaft, das sich nicht mehr auf eine parteiübergreifend geteilte, quasi-objektive Wirklichkeitsschau beruft.
Dabei gelangen sie u.a. zu folgenden Aussagen:
In der postfaktischen Demokratie lösen sich der Respekt vor der faktischen Wirklichkeit und deren Anerkennung im Eifer des Gefechts um die Macht auf (…)
Wenn selbst mittels zuverlässiger Methoden verifizierte Fakten politisiert und zu Plädoyers reduziert werden, verliert die politische Debatte ihren Fixpunkt in der faktischen Wirklichkeit.”
Die Autoren bringen ihre Lesart der US-Entwicklungen mit Hannah Arendts klassischer Analyse von Nationalsozialismus und Stalinismus in Zusammenhang, die in Origins of Totalitarianism u.a. eine “Emanzipation einer politischen Idee von Erfahrung und Wirklichkeit” konstatiert.
Der ideale Untertan für eine totalitäre Führung ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern es sind Leute, für die Distinktion zwischen Fakten und Fiktion (mit anderen Worten die Realität der Erfahrung) und die Distinktion zwischen wahr und falsch (mit anderen Worten die Standards des Denkens) nicht länger existieren.”
Das, erklären Hendricks und Vestergaard, laufe auf etwas hinaus, das George Orwell in seiner Dystopie 1984 folgendermaßen formuliert habe (zitiert nach “Postfaktisch”):
Die Partei trug dir auf, das Zeugnis deiner Augen und Ohren abzuweisen. Das war ihre letzte und wichtigste Anweisung.”
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Dieser Blogger hat sich durch diese Textpassagen weniger an die heutigen Vereinigten Staaten als vielmehr an das Deutschland der jüngsten Ereignisse von Chemnitz und deren andauerndes politisch-mediales Nachspiel erinnert gefühlt.
Wie mehrfach auch auf staatsstreich.at thematisiert, scheinen vor knapp 14 Tagen Migranten-Asylwerber einen 35-jährigen Deutschen erstochen zu haben (sie sind noch nicht rechtskräftig verurteilt), was
- am folgenden Sonntag zu einer spontanen Kundgebung von Hunderten Rechtsradikalen/Hooligans und – damit in Zusammenhang stehend – möglichen Übergriffen gegen Migranten geführt hat (die Beweislage dafür ist ziemlich schütter).
- Am Tag danach, einem Werktag, sind wenigstens 6.000 Sachsen gegen die Bluttat auf die Straße gegangen, wobei sich angebliche oder wirkliche Rechtsradikale u.a. mit Hitlergrüßen beteiligt haben. Linksradikale/Antifaschisten haben teils gewaltsam dagegen demonstriert.
Die deutschen – und später internationalen – MSM haben diese Ereignisse als Nazi-Krawalle berichtet, wobei eine klare Abstufung der Bedeutsamkeit erkennbar war.
In der Coverage am weitaus wichtigsten waren die Aktivitäten von angeblichen oder wirklichen Neonazis.
Der Anlass für die Demos wurde nur mehr unter ferner liefen erwähnt, ebenso wie der Aufmarsch der Bürger vom Montag selbst, der auch an diesem Tag meist als Nazi-Rabatz geframt wurde.
Für die Berichterstattung (auch in Print) spielte ein 20 Sekunden langer, mit einem Handy aufgenommener Clip eine Rolle, in dem eine der behaupteten Menschenjagden zu sehen sein soll.
Die Bewegtbilder wurden zwar aus einem “rechten Kamerawinkel” gefilmt, aber auf einem “antifaschistischen” Twitter-Account (“Zeckenbiss”) verbreitet.
Mehr an – “wenigstens ansatzweise belastbarem” – Dokumentationsmaterial re Menschenjagd ist bis zur Stunde nicht aufgetaucht.
Der Chef des Inlandsgeheimdiensts erklärte daraufhin, er bezweifle, dass es in Chemnitz zu Menschenjagden gekommen sei und mutmaßte, das geschilderte “Hase du bleibst hier-Video” könnte eine “Falschinformation” gewesen sein.
Das lief dem Chemnitz-Narrativ der großen Mehrheit der Politicos und Medien zuwider (die Linke verlangte umgehend den Rücktritt Hans-Georg Maaßens).
In den vergangenen Stunden wurde das Thema endgültig politisiert und in die Sphäre des Vermeinens gehoben, indem man Maaßen vor einen Ausschuss des Bundestags lud, wo er von CDU/CSU und dem der gleichen Fraktion angehörenden Innenminister gestützt wurde (“was die Linke ärgerte”).
Aufmerksamkeit wird mittlerweile also nicht mehr den eigentlichen Fakten geschenkt.
Diese sind – bis auf eine Detail-Unschärfe – zwar gesichert, werden aber nicht mehr thematisiert.
Aufmerksamkeit bekommt ausschließlich die Frage, ob der Ober-Schlapphut im Amt bleiben darf und welche politische Partei das ermöglicht bzw. verhindert. Die SPD scheint das mittlerweile zur Koalitionsfrage machen zu wollen.
Das ist “postfaktische Demokratie” in Reinform.
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