Putin, Conchita Wurst und das dekadente Gesicht Europas

Sieg_der Toleranz
Drag-Queen als Freiheitsstatue (Screenshot orf.at)

Der Sieg einer Drag-Queen beim Europäischen Songcontest hat ein machtvolles visuelles Symbol in die Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA/EU geworfen. Während der Westen den Sieg aufkläererischer Werte feierte, fiel die russische Diagnose etwas anders aus: Dekadenz im Endstadium.

In Österreich war die Politisierung des Vorgangs besonders stark, weil das Land zum ersten Mal seit 1966 (“Merci, Chérie”) wieder einen Song Contest und – neben Mozart und Udo Jürgens – einen neuen musikalischen Champion  gewonnen hatte.

Während anderswo der Spin der schreibenden Zunft (“Kulturredaktion”) vorbehalten blieb, durfte/musste in der Alpenrepublik auch die Spitzenpolitik (Bund) zum Kommentar schreiten. Und zwar ohne Ausnahme, vom Bundespräsidenten abwärts (eigene Hervorhebungen).

Präsident Fischer: “Das ist nicht nur ein Sieg für Österreich, sondern vor allem für Vielfalt und Toleranz in Europa. Dass sie ihren Sieg all jenen widmete, die an eine Zukunft in Frieden und Freiheit glauben, macht ihn doppelt wertvoll !”

Kanzler Faymann: “”Conchita Wurst hat mit großer Stimme und beeindruckender Performance die Zuseherinnen und Zuseher überzeugt.Ein großes Signal, dass sich die musikalische Leistung gegen Vorurteile und Intoleranz durchgesetzt haben.”

Vizekanzler Spindelegger: “Diese künstlerische Leistung war herausragend.

Die grüne EU-Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek: “Mir sind die Tränen gekommen, gestehe ich ganz offen.”

Auch FPÖ-Chef Strache wollte sich nicht als schlechter Verlierer zeigen und der selbsternannten Schwulenlobby Anerkennung für ihren Triumph zollen: “Ich stehe nicht an zu gratulieren.” Seine erste Reaktion musste freilich schnell abgeändert werden, weil sie als schlüpfrig aufgefasst werden konnte. Die Fans der Künstlerin mit dem unverfänglichen Namen Wurst erregten sich auf Facebook über die eindeutig zweideutige Wortwahl Straches, was dessen PR-Leute dazu zwang, in einer zweiten Reaktion klarzustellen: “Ich gratuliere!”

Die Welt außerhalb Europas und den USA nahm das Ereignis wenig zur Kenntnis. Nur aus Brasilien wurde ein ausführlicherer Bericht gemeldet (Folha de Sao Paolo). Ansonsten war (über Google) keine Berichterstattung nachweisbar. Die US-amerikanischen Medien schafften es manchmal sogar, überzeugend zu kontextualisieren, beispielsweise CNN: “Austria’s Conchita Wurst wins Eurovision amid Russia, Ukraine tensions”

In Russland selbst gab es praktisch niemanden, der die westliche Auslegung teilen wollte. Russen, die bisher immer darauf bestanden hatten, “Teil der europäischen Kultur” zu sein, schienen sich plötzlich nicht mehr so sicher zu sein.

Radikalinskis wie der nationalistische Duma-Abgeordnete Wladimir Schirinowski erblickten in der Kunstfigur das Ende Europas und meinten, dass es falsch gewesen sei, dass “wir vor 50 Jahren aus Österreich abgezogen sind”. (Wahrscheinlich war das das einzige, was ihm auf die Schnelle zu dem kleinen Land in Mitteleuropa einfiel.)

Europa, bärtiges Mädchen
Europa, bärtiges Mädchen

Der russische Vizepremier twitterte, den Anhängern einer europäischen Integration müsse nun klar sein, was sie erwarte: “ein Mädchen mit Bart” und ein russischer Schlagersänger glaubte im Song-Contest die “schlimmste Niederlage der Europäischen Union” erkennen zu können. Man habe dabei Europas “wahres Gesicht” gesehen.

Tags drauf verbreiteten Dumaabgeordnete eine Fotomonage, das führende ukrainische Politiker, darunter auch Julia Timoschenko, gemeinsam Conchita Wurst zeigte. Es war auf ukrainisch mit “Wir sind eine europäische Familie” untertitelt.

Kurz: die Sache wurde hüben wie drüben ideologisch kräftig ausgeschlachtet. Der unübersehbare kulturelle Riss zwischen “dem Westen” und Russland (und wahrscheinlich dem Rest der Welt) ist in einem vor wenigen Tagen erschienen Artikel in “Foreign Policy” neu interpretiert worden. FP ist die Zeitschrift des außenpolitischen Establishments in den USA.

Ein Autor, der dem Familiennamen nach russische Wurzeln hat, führt die sich auftuende Kluft auf ein Machtdispositiv der Moskauer Zentralgewalt zurück. Putin erkennt er die zweifelhafte  Ehre zu,  eine neue Art der Kriegführung erfunden zu haben und  einen  “nichtlinearen Krieg” um die Ukraine zu führen.

Putins Vorlage soll ein Science Fiction-Gschichterl eines russischen Autors sein, der nach dem “fünften Weltkrieg” spielt. Anders als in den “primitiven Kriegen des 20. Jahrhunderts” geht es dort um den Krieg aller gegen alle, mit wechselnden Bündnissen und variablen Frontverläufen;

“Einige Provinzen würden sich auf die eine Seite schlagen, andere auf die andere. Eine Stadt oder Generation oder ein Geschlecht würde sich wieder einer dritten anschließen. Dann würden sie die Seiten wechseln, manchmal mitten in der Schlacht. Ihre Ziele waren ziemlich verschieden. Die meisten verstanden Krieg als einen Teil des Prozesses. Nicht notwendigerweise als wichtigsten Teil.”

Der Kreml führe in der aktuellen Ukrainekrise einen nichtlinearen Krieg. Er manipuliere und vereinnahme die westlichen Medien und den westlichen politischen Diskurs durch opportunistische Positionierungen: “Die nichtlineare Sensibilität des Kreml ist daran ersichtlich, wie europäische rechtsgerichtete Nationalisten wie die Jobbik und der französische Front National durch Anti-EU-Botschaften an Bord gebracht werden; und die Linke durch Erzählungen vom Kampf gegen die US-Hegemonie. Die amerikanischen religiösen Konservativen werden durch die Positionierung des Kreml gegen die Homosexualität überzeugt.”

Dass die Positionen willkürlich eingenommen worden sind und bei Bedarf einfach umgedreht werden können, müsste freilich erst  plausibel gemacht werden. Derlei hat bisher noch nicht stattgefunden und das ist auch nur schwer vorstellbar.

Das Konzept ist weder die Erfindung des russischen Präsidenten noch seines Spin-Doktors, der bei den jüngsten Strafmaßnahmen im übrigen in die Sanktionsliste aufgenommen wurde. Es ist auch nicht das Geisteskind von FP-Autor Peter Pomerantsev. Das von ihm Beschriebene ähnelt frappant dem globalen “flüssigen Krieg” des Asia Times-Reporters Pepe Escobar, der unter Pseudonym Roving Eye, Wanderndes Auge, bekannt ist.

Für Escobar sitzt im Zentrum des sich ständig verändernden weltweiten Bürgerkriegs nicht Putin, sondern Barack Obama. Dieser ist der Repräsentant eines Imperiums, das weltweit alle bespitzeln und ganz legal eigene Bürger umbringen darf und das  jene Terroristen, die es vorgibt zu bekämpfen, für seine eigenen außenpolitischen Zwecke einsetzt. Während der nichtlineare Krieg des “Foreign Policy”-Artikels ein ununterbvrochenes, zweckfreies Machtspiel ist, geht es bei Escobar um die weltweite Jagd nach Kohlenwasserstoffverbindungen, nach Öl und Gas.

Die in FP vorgenommene Beschreibung der Politik-Angebote Moskaus an die westeuropäische Gesellschaft ist aber nicht falsch. Akkurat ist auch Pomerantsevs Beobachtung, dass die ideologischen Angebote Moskaus quer zum überkommenen Rechts-links-Schema liegen. Die Russen bieten eine “linke” Geschichts- und Wirtschaftsideologie im XXL-Paket zusammen mit einer “rechten” National- und einer ebensolchen Sexualpolitik an.

Parteiischer Unsinn ist dagegen die Darstellung, dass das Ganze nur eine ideologische und informationelle Kriegsführung einer Seite, der staatlichen Zentralmacht in Moskau darstellt; und dass die Gegenseite, die westlichen Globalistan-Häuptlinge in Washington und Brüssel, noch gar nicht auf solche Warfare-Methoden gekommen seien.

Gerade das Schwulenthema zeigt das Gegenteil – und nicht nur das. Es zeigt auch, wie angebliche freie Medien sich selbst zum Resonanzkörper der eigenen Bürgerkriegspartei machen – ohne äußeren Zwang und freiwillig. Der “Westen” hat es geschafft, Schwule, Lesben und Transgender für seinen Feldzug gegen Russland zu mobilisieren. Deren selbsternannte Lobby lässt sich begeistert dafür einspannen, weil das eine Aufmerksamkeit verspricht, die z.B. mit dem Thema Repression von Homosexualität in Saudiarabien oder Afrika nie und nimmer hergestellt werden könnte.

Das wusste auch die männliche Skandalnudel aus Gmunden, die sich im ersten  Glückstaumel direkt an den Feind wandte: “Auf die Frage, ob sie etwas zum russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sagen habe, (…) sagte Wurst: “Ich weiß nicht, ob er jetzt zusieht, aber falls ja, würde ich sagen: ‘Wir sind nicht aufzuhalten.’”

Wie erinnerlich, hatte dieses Drama bei den Winterspielen in Sotchi einen ersten Akt, als Putin ein in der Duma verabschiedetes Gesetz gegen zum Schutz Minderjähriger gegen “homosexuelle Propaganda” folgendermaßen auf den Punkt brachte: “Die Schwulen sind uns willkommen, aber die Kinder sollen sie in Ruhe lassen” (was ziemlich sicher ein beabsichtigter Untergriff war).

Das war das Stichwort für die Hilfstruppen aus Gayistan, für all die unterbeschäftigten CampaignerInnen und AktivistInnen aus dem warmen Westen, das Ganze zu einem Menschenrechts- und Demokratiethema aufzublasen – sodass man als Außenstehender glatt  meinen konnte, Putin habe die freie Meinungsäußerung untersagt oder wenigstens verboten, gleichgeschlchtlich Orientierte in den russischen Staatsdienst aufzunehmen. Bei den darauf folgenden Aktionen bekam der bekennende Macho Putin auch etwas Lippenstift und Lidschatten ab.

Anti-Putin-Demo
Anti-Putin-Demo

 

Ein Monat nach der Kampagne – als das Thema für die Zeitungen kein solches mehr war – erschien in der deutschen Blogosphäre  ein penibel recherchierter, mit 27  Fußnoten belegter Artikel, der sich mit dem Stein des Anstoßes beschäftigte und zu folgendem Resümee gelangte (eigene Hervorhebungen):

“Ich kann also laut meiner Recherche nicht behaupten, dass es ein für Homosexuelle angenehmes Klima in Russland gäbe. Wie ich nur bereits in den vorherigen Abschnitten deutlich machen wollte, drückt sich im neuen Gesetz keine spezielle neue ‘Nazi-ähnliche’ Verfolgung von schwulen Menschen aus.”

Es gebe zwar z.B. Meinungsumfragen mit massiven Mehrheiten gegen gleichgeschlechtliche Ehen, aber “ich hoffe, ich konnte eure Meinung auch wieder etwas freier machen, dass es in Russland nicht diese ‘Wir hassen Schwule’-Mentalität in der breiten Bevölkerung gibt. Soweit ich in meiner Recherche gefunden haben, können schwule Menschen dort ganz normal leben.”

Zum Thema Berichterstattung im Mainstream meint der Autor, dass man nicht nachweisen könne, dass absichtlich gelogen worden sei, aber: “Mit den aktuellen Informationen halte ich für klar, dass unsere Medien entweder einen hochgradig fahrlässigen, schlampigen Journalismus betrieben haben (abschreiben statt selbst recherchieren) oder dass sie tatsächlich absichtlich gelogen haben.”

Foto: Brian Minkoff-London Pixels, Creative Commons 3.0

Unabhängiger Journalist

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