Refutschies und Invasoren am Beginn der Völkerwanderung

512px-Karte_völkerwanderungDie heute vorherrschende Geschichtsbetrachtung lehrt, politische Akteure säuberlich in Täter und Opfer einzuteilen: entweder, oder. Doch solches Schubladendenken erzeugt eine trügerische Übersicht und leitet das Urteilsvermögen in die Irre. Auch unsere heutigen Flüchtlinge vereinen beide Seiten in sich. Sie sind wohl Refutschie-Invasoren   – wie die alten Goten, die die heiße Phase der Völkerwanderung eingeleitet haben, unterstützt von den römischen Behörden.

Am Ende des Prozesses war Europa nicht mehr zu erkennen und reif für das Mittelalter. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute in der schlechten Nachricht ist: Es findet nicht alles gleich & sofort statt. Nimmt man das vierte Jahrhundert unserer Zeitrechnung als Maßstab, wird der älteren Generation ausreichend Zeit bleiben, in Ruhe auszusterben. Von der hier thematisierten, gemanagten Massenimmigration des Jahres 376 bis zur Plünderung Roms sind immerhin 34 Jahre ins Land gezogen.

Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen damals und heute, zum Beispiel, dass damals ausschließlich agrarisch dominierte Ökonomien mit knappem Energiebudget existiert haben, vom wirtschaftlichen Mangel geprägte Sklavenhaltergesellschaften.

Es gibt eine weitere wesentliche Differenz. Diese betrifft die Zusammensetzung der in Bewegung geratenen Massen: Während die Migranten damals zu drei bis vier Teilen aus Zivilisten und nur einem Teil aus potenziellen Kämpfern bestanden (Heather, Empires and Barbarians, z.B. 97 und 247), ist das Verhältnis heute umgekehrt: 80 bis 90 Prozent der modernen Refutschies-refugees sind (je nach “Sample”) männlich. Bereinigt um den Anteil vorpubertärer Buben, alter Männer und von Rollstuhlfahrern, gelangt man zu höchstens 25 Prozent potenziellen Nicht-Kombattanten (einschlägig gedrillte Frauen geben übrigens exzellente Soldatinnen ab).

Folgend ein paar Punkte aus den Jahren des Zusammenbruchs der römischen Grenze an der Wende zum fünften Jahrhundert.

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Wanderungen von Stammesverbänden außerhalb der und über die römischen Grenzen hinweg gab es damals immer wieder. Das war nicht ungewöhnlich. Der Trigger dessen, was im Rückblick als Völkerwanderung bezeichnet wurde, liegt zweifellos in der Westexpansion der Hunnen.

Das kriegerische Reitervolk aus Asien löste bereits Fluchtbewegungen aus, wo es noch gar nicht richtig in Erscheinung getreten ist. Terwinger-Goten, im heutigen Rumänien siedelnde, unmittelbare Nachbarn des Reichs, beantragten bereits Asyl, als die Masse der Reiter-Horden noch den Kaukasus und die heutige Zentral- und Ostukraine malträtierte. (Heather, Empires and Barbarians, 232). Möglicherweise haben manche Goten auch auf die fruchtbaren Böden in Thrakien gespitzt (Ammianus 31.3.8).

Jedenfalls versammelte sich 376 eine große Zahl von ihnen an der unteren Donau und begehrte Asyl – es müssen irgendwo zwischen 100.000 und 200.000 Menschen gewesen sein (Halsall, Barbarian Migrations, 175, Kulikowski, Rome’s Gothic Wars, 130). Je länger die Situation andauerte, desto mehr Menschen kamen zusammen und desto knapper wurde die Verpflegung. Es entstand etwas, was die heutige Öffentlichkeit als schwere humanitäre Krise bezeichnen würde.

Als Gegenleistung für die Aufnahme versprachen die Goten Militärdienste zu leisten. Kaiser Valens, der gerade Krieg gegen die Perser führte, genehmigte aus der Ferne die Ansiedlung dieser als romfreundlich geltenden Stämme, offenbar in der Hoffnung auf frische Auxiliartruppen.

Es gab zu dieser Zeit eine Standard-Prozedur für solche Ansiedlungen, mit der sichergestellt werden sollte, dass die innere Sicherheit nicht gefährdet war. Diese Regeln wurden nicht beachtet (Heather, Empires and Barbarians, 239). Der einzige zeitnah berichtende Chronist, Ammianus, spricht gar davon, dass die Beamten ganze Heeresformationen Bewaffneter (agmina armatorum) ins Reich gelassen hätten (Ammianus, 31.4.9.). Moderne Historiker meinen, dass die Terwinger und die mit ihnen Ziehenden wenigstens zum Teil entwaffnet wurden (Kulikowski, Rome’s Gothic wars, 130).

Ein Pfusch war es allemal und wer dafür verantwortlich war – der abwesende Kaiser oder seine lokalen Beamten/Militärs – ist nicht ganz klar.

Eine ähnliche Geschichte spielte sich mit den Greutungen ab, einem etwas später eintreffenden anderen Goten-Stamm, der bis dahin nicht durch besondere Romfreundlichkeit aufgefallen war. Ihnen ließ Valens die Aufnahme verweigern, wenigstens offiziell, nach außen hin.

Seltsamerweise schafften es die Greutungen trotzdem, die Donau zu queren – in großer Zahl und offenbar mit ihren (ein Jahr später kriegsentscheidenden) Pferden. Heutige Historiker führen diesen Umstand meist auf Unachtsamkeit und Personalmangel auf Seiten der Römer bzw. andere zu erledigende Aufgaben zurück (das Thema interessiert sie nicht besonders).

Dass ein solches Unternehmen unbemerkt und ohne römische Hilfe vonstatten gehen konnte, ist freilich auszuschließen. Die Donau war am mutmaßlichen Punkt der Querung etwa einen Kilometer breit. Wasserfahrzeuge in nennenswerter Zahl waren – sofern überhaupt -, nur auf römischer Seite vorhanden.

Was sich 376/77 wirklich ereignet hat, wird wohl nie geklärt werden.

Hintergrund könnte theoretisch eine inoffizielle, sozusagen graue kaiserliche Politik gewesen sein. Wahrscheinlicher ist aber eine Mischung aus Naivität und simpler Bestechung. Die mit dem Transfer betrauten Spitzenbeamten, Lupicinus und Maximus, standen jedenfalls im Ruf besonders korrupt gewesen zu sein.

Die Stimmung südlich der Grenze war jedenfalls dezidiert flüchtlingsfreundlich. Spöttisch beschreibt Ammianus die Rationalisierungen, mit denen man sich den gewaltigen Menschenstrom schönredete und den Eifer begründete, mit dem man den Flüchtlingen über die Grenze half (31.4.5):

Von dieser Hoffnung erfüllt, wurden verschiedene Leute mit Fahrzeugen losgeschickt, um das wilde Volk zu transportieren.  Gewissenhaft wurde darauf geachtet, dass kein künftiger Zerstörer des römischen Staatswesens zurückgelassen werden musste – selbst wenn dieser von einer tödlichen Krankheit befallen war.”

Ammianus_31_4_5Es kam, wie es kommen musste.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis das Ansiedlungsübereinkommen zerbrochen war und sich die im Reich befindlichen Goten samt ihren Verbündeten und anderen zuziehenden underdogs im Aufstand befanden.

In dieser Phase scheint das Verhalten der römischen Obrigkeit wesentlich dazu beigetragen zu haben, Öl ins Feuer zu gießen.

Die Rede ist immer wieder von Wucherei und gezieltem Aushungern der Asylanten, von Misshandlungen und forcierter Versklavung. Speziell Beamte und Militärs sollen die Flüchtlinge abgezogen und wie die wilden Tiere behandelt haben, siehe z.B. hier, z.B. Seite 350. Um die Sache abzurunden, wollten die Römer die beiden Terwinger-Heerführer bei einem ihrer Banquets umbringen – was aber nur zur Hälfte glückte.

Die Lage spitzte sich derart zu, dass sich der Basileus bemüßigt sah, seinen Perserkrieg abzubrechen und zurückzumarschieren. 378 kam es bei Adrianopel zu einer Schlacht, bei der zwei Drittel des römischen Heeres vernichtet wurden und der Kaiser selbst das Leben verlor. Die greutungische Kavallerie gab den Ausschlag. Es war die schlimmste römische Schlappe seit Cannae.

Es folgten drei Jahre, in denen die visigoths am Balkan und im heutigen Griechenland marodierten. 382 schloss Valens Nachfolger, Theodosius, einen Frieden, der es seinen Propagandisten erlaubte, sich in schönfärberischen Phrasen über Integration und das Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen durch die Goten zu ergehen.

Nach außen war die Sache als Kapitulation aufgezogen, aber in Wirklichkeit war es ein für die Goten günstiger Verständigungsfriede.

Von einer Integration oder gar Assimilation konnte jedenfalls keine Rede sein.

Man erlaubte den Refutschie-Invasoren,. sich en bloque in Thrakien anzusiedeln und unter eigenen Führern und nach eigenen Gesetzen zu leben. Steuern mussten scheinbar keine gezahlt werden, nicht einmal eine formelle Pflicht zum Militärdienst scheint bestanden zu haben (Errington, Roman Imperial Policy, 64).

Letztlich bedeutete die Übereinkunft, dass

der rechtliche Unterschied zwischen römischem und nicht-römischem Territorium und Status (..) genau dort verwischt (wurde), wo er bisher am klarsten zu zutage getreten war: an der Grenze, wo eine römische Provinz und ihre Verwaltung an die Länder der Barbaren (barbaricum) grenzte. Während Valentinian und Valens durch den Bau von Brückenköpfen die Grenze (…) zu kennzeichnen versuchten, erlaubte Theodosius’ Abkommen in Thrakien, dass ein Brückenkopf des barbaricums in einer römischen Grenzprovinz etabliert werden konnte.”

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An der Wende vom vierten ins fünfte Jahrhundert vollzog sich auch endgültig die Teilung des westlichen und östlichen Reichs. Theodosius (†395) war der letzte gemeinsame Kaiser, doch bis zum formalen Ende des westlichen Teils blieb so etwas wie eine gemeinsame Öffentlichkeit/ Innenpolitik erhalten – selbst wenn es nur um Rangeleien über periphere Einflussgebiete ging.

Die Westgoten wurden nach dem Friedensschluss von 382 Teil des politischen Spiels. Immerhin gelang es, die Migranten zehn Jahre lang ruhigzustellen und sie von den bisher gewohnten Plünderungen abzuhalten.

Zunächst lieferten die Goten, wie schon schon zu Valens Zeiten erhofft, der Armee zehntausende Soldaten zu – regulären Einheiten und Foederati-Verbänden. Die Goten halfen Konstantinopel, Feinde von außerhalb und die westliche Reichshälfte zu bekämpfen. Ein aufwendiger Bruderkrieg am Ende des 4. Jahrhunderts endete mit dem Sieg Ostroms, nicht zuletzt dank der Goten unter ihrem jungen König Alarich. Der spätere Gotenkönig muss knapp vor der großen Überfahrt ins Reich noch nördlich der Donau geboren worden sein.

Noch nicht 20-jährig, ließ er sich für alle möglichen Kriege des byzantinischen Hofs einspannen, wurde aber nicht mit nennenswerten Ämtern betraut – was ihn veranlasste, frustriert zu rebellieren.

Weil Konstantinopel zu gut von Truppen beschützt war, wandte sich Alarich gegen Westen und nahm die gotischen Raubzüge im zentralen und westlichen Griechenland sowie entlang der Adria-Küste wieder auf. Allgemein gesprochen sieht es so aus, als hätte der Osten beim Management der Barbaren ein wesentlich geschickteres Händchen gehabt.

In Rom (bzw. Ravenna) herrschte zu diesem Zeitpunkt noch Alarichs ehemaliger Waffenbruder in oströmischen Diensten, Stilicho. Dieser war de facto-Regent für den noch minderjährigen Sohn von Theodosius, Honorius.

Stilicho entstammte der Verbindung einer Römerin mit einem Vandalen und die Beziehungen zwischen den barbarischen Heerführern gaben Anlass für viele Verdächtigungen. Zwischen beider Truppen fanden zwar etliche Treffen statt, die üblicherweise mit weströmischen Siegen endeten, die aber weit davon entfernt waren Alarich vernichtend zu schlagen. Es ist, als habe der Gotenkönig jenseits des Adriatischen Meers, in Illyrien, 15 Jahre lang auf seine große Chance gewartet.

Die kam, nachdem Honorius Stilicho 408 ermorden hatte lassen, den vielleicht fähigsten Militär seiner Zeit.

Jahre vor dem Staatsmord hatte Alarich von den Römern 1.000 (römische) Pfund Gold Schutzgeld verlangt, knapp 330 Kilo, also nicht übermäßig viel.

Stilicho, der zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun hatte einen Aufruhr im oberen Gallien zu bekämpfen, riet aus taktischen Gründen dazu, die Summe zu bezahlen – und das sollte sein Todesurteil sein. Für Stilichos Feinde war dies ein weiterer Beweis für dessen heimliche Zusammenarbeit mit Alarich und sie fanden damit bei Honorius Gehör (Kulikowski, Rome’s Gothic Warfs, 172).

Alarich, der warlord aus Illyrien und outsider der römischen Machtstruktur, wollte von Kaiser Honorius Geld und Getreide, aber nicht nur das – er wollte vor allem akzeptiert werden, in der römischen Hierarchie aufsteigen und zu Ämtern und Ehren gelangen.

Honorius war zwar bereit zu zahlen, verweigerte aber die geforderten Ämter – und das bedeutete für die Ewige Stadt, dass sie zum ersten Mal seit 800 Jahren wieder von Barbaren eingenommen wurde. Im Jahr 410 plünderten Alarichs Truppen drei Tage lang die Stadt.

Obwohl Rom schon lange nicht mehr Residenzstadt war, war dies ein ungeheurer Vorgang mit einer ebensolchen symbolischen Tragweite. Da half es auch nicht, dass die gotische Soldateska noch vergleichsweise gebremst agierte – zumindest, wenn man den Akt mit späteren ähnlichen Vorgängen, etwa die Einnahme Roms durch die Vandalen 45 Jahre später vergleicht.

Auch für den Eroberer, der viel lieber Imperator oder wenigstens Generalissimus geworden wäre, war der sacco di Roma eine Katastrophe, meint Kulikowski (Rome’s Gothic Wars, 177).

Alles, worauf Alarich gehofft und wofür er eineinhalb Jahrzehnte lang gekämpft hatte, ging zusammen mit der Hauptstadt der Alten Welt in Flammen auf. Ein kaiserliches Amt oder ein legitimer Platz für sich und seine Gefolgschaft innerhalb des Imperiums waren für immer außer Reichweite. (…) Innerhalb von ein paar Monaten war Alarich tot.”

Der Sage nach wurde Alarich im kalabrischen Fluss Busento beerdigt. Sein Nachfolger Athaulf führte die Westgoten zurück nach Norden, zuerst nach Südgallien und dann nach Spanien. Ironischerweise wurde das dort entstehende Westgotische Königreich im achten Jahrhundert zum ersten europäischen Opfer des islamischen Eroberungszugs.

Visigoth_migrations
Der Trampelpfad der Westgoten

Literatur:

Ammianus Marcellinus, Res Gestae, Liber XXXI

R. Malcolm Errington, Roman Imperial Policy from Julian to Theodosius, 2006

Guy Halsall, Barbarian Migrations and The Roman West 376 – 568, 2007

Peter Heather, Empires and Barbarians. The Fall of Rome and Birth of Europe, 2010

Michael Kulikowski, Rome’s Gothic Wars. From the Third Century to Alaric, 2007

Noel Lenski, Fauilure of Empire. Valens and the roman state in the fourth Century., 2002

Foto: Sansculotte, Wikimedia Commons, SA-3.0, Asta [Public domain], wikimedia Commons

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