Uhra-Opa und d. Besatzungs-Russe

Mein Ur-Großvater mütterlicherseits hat Hitler insgeheim gar nicht gemocht. Deswegen hat er sich anno 1945 in Schale geworfen, um die einmarschierenden Russen zu begrüßen. Das hat ihn seine goldene Taschenuhr gekostet. Eine Familienanekdote über Naivität und Schuld.

Vorbemerkung: Ich weiß auch nicht, warum ich das jetzt aufschreibe – wahrscheinlich, weil es nicht mehr allzuviele gibt, die diese unverbürgte Begebenheit kennen.

Es gibt in mir wenig Zweifel, dass der Kern dieses banalen G’schichterls auf Tatsachen beruht; aber auch, dass es nachträglich ausgeschmückt und in einen vielleicht nicht hundertprozentig wahren Erzähl-Zusammenhang gesetzt wurde.

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Mein Ur-Großvater, der fünf Jahre vor meiner Geburt gestorben ist, war ein Spaßvogel, worüber es etliche Anekdoten gibt. Manches wirkt wie ein g’fäuter Schmäh, anderes ist auch jetzt noch lustig.

Leopold war, würde man heute sagen, vier Jahrzehnte Mindestpensionist.

Er hat im Wirtshaus den örtlichen Postboten bis etwa zur Monatsmitte mit Verachtung oder Schlimmerem gestraft – aber danach verhielt er sich von Tag zu Tag freundlicher. Gegen Monatsende säuberte er die Wirtshausbank sogar mit seinem angerotzten Taschentuch, bevor sich der Postbote niedersetzen konnte.

Am Ersten des Monats (oder so) überbrachte ihm der Postbote die karge Rente, wonach ihn Ur-Großvater im Wirtshaus wieder geschnitten hat, bis zur Monatsmitte. Dann ging das Spiel von vorne los.

Ich weiß nicht, ob meine Ur-Großmutter Leopold auch im vorgerückten Alter noch lustig gefunden hat, aber sie sind zusammen alt geworden und sie hat ihn um sechs Jahre überlebt.

Na, jedenfalls hat dieser Mann den Hitler gar nicht gemocht, was im Wirtshaus jeder wußte, obwohl der Leopold in der Öffentlichkeit die Goschn g’halten hat, wie man hier sagt, und obwohl sein späterer Schwiegersohn, mein Großvater, ein (illegaler) Nazi war mit einem – wie sag ich’s? – etwas  ambivalenten Verhältnis zu den Nazis.   :mrgreen:     

Das vielleicht einzige Mal, bei dem mein Ur-Großvater mit seiner Ablehnung von Hitler öffentlich aufgetrumpft hat, war 1945, als die Russen in das niederösterreichische Kaff einmarschiert sind, wo er, seine Frau, deren Tochter und Schwiegersohn sowie die beiden Enkelinnen wohnten, 17 die eine und 15 Jahre die andere.

Da hat der Leopold seinen besten (und wohl einzigen) Anzug angezogen mitsamt einer ererbten goldenen Taschenuhr plus Goldkette um den Bauch und ist Russen schauen (“begrüßen”) gegangen.

Die sind auch richtig in Reih und Glied einmarschiert, aber einer ist, wie er meinen Ur-Opa gesehen hat, aus der Formation ausgeschert und hat diesem mit den Worten “Uhra, Uhra!” den Zeitmesser aus der Westentassche gerissen.

Da soll der Lepold ziemlich blöd aus der Wäsche geschaut haben und jedes Mal, wenn das erzählt wurde, haben alle gelacht. Vielleicht hat der Leopold zu Lebzeiten auch schon darüber gelacht.

Scheinbar ist das das einzig schlimmere Erlebnis mit den sowjetischen Fronttruppen geblieben und wenn das zutrifft, haben meine Leute wohl einiges Glück gehabt, denn meine Mutter und meine Tante waren damals junge Frauen und meine Großmutter war eine sicherlich attraktive Mittvierzigerin.

Anderen mag es viel schlimmer ergangen sein.

Ich weiß es – was die Frauen meiner Familie betrifft – aber auch nicht sicher.

Zumindest ist nichts “überliefert worden”. Ich weiß nur, dass die beiden Mädchen in diesen Tagen nicht auf die Straße gelassen und im Haus versteckt wurden.

Soviel gesunden Menschenverstand haben mein Ur-Opa und seine Nachkommen offenbar schon gehabt.

Unabhängiger Journalist

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