Die Iden des März: UK-Parlament “zu selbstbewusst” für die EU?

Der Sprecher (Vorsitzende) des britischen House of Commons, John Bercow, hat angekündigt, ein drittes Meaningful Vote über das von Theresa May und Michel Barnier verhandelte Austrittsabkommen zu verhindern, sollte die May-Regierung versuchen, einen unveränderten Text dem Parlament vorzulegen. Von John James, erstmals erschienen bei b.com.

Diese Entscheidung illustriert vorbildlich, warum die politischen Institutionen des Vereinigten Königreichs (VK) mit dem politischen System der Europäischen Union nicht kompatibel sind. Das politische System Großbritanniens wird “bottom up”, das System der EU “top down” gelenkt.

In der EU steht das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen schon am Anfang fest. Man sucht politische Prozesse, die die getroffenen Entscheidungen legitimieren.

In GB existieren zuerst einmal ergebnisneutrale politische Strukturen. Die politischen Auseinandersetzungen im Rahmen dieser Strukturen sollen ein Ergebnis bringen, das im Sinne der Wähler ist.

Wir wissen alle, dass die EU das Ziel hat, die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten endgültig auszuhebeln und an ihrer Stelle einen zentral gesteuerten, souveränen europäischen Staat zu setzen.

Es gibt zwei wesentliche Unterschiede zwischen Großbritannien und den meisten europäischen Staaten:

1.) Die britischen Wähler und ihr Parlament haben beide ein Selbstbestimmungsrecht, das nicht in Frage gestellt werden kann.

2.) Der britische Parlamentsabgeordnete soll nicht seine Partei, sondern die Interessen seines Wahlkreises gegenüber der Exekutive vertreten und muss abwägen, ob die Pläne der Regierung mit den Wünschen seiner Wähler akkordieren.

Das parlamentarische Selbstbestimmungsrecht entsteht aus der Tatsache, dass die Parlamentsabgeordneten nicht von ihren Parteien, sondern von den Wählern ihrer Wahlkreise ausgewählt werden.

In den meisten europäischen Ländern werden die Parlamentsabgeordneten von der Parteizentrale ausgewählt. Wer sich zu offensichtlich gegen die Parteilinie stellt, ist in Gefahr, bei der nächsten Wahl an unwählbarer Stelle auf die Liste gesetzt zu werden.

Aus diesem Grund haben britische Parlamentarier wesentlich mehr Autonomie als ihre europäischen Kollegen und sowohl die britischen Wähler wie auch die britischen Parlamentarier begreifen sich als selbstverwaltend. Das Parlament kontrolliert die Regierung im Auftrag der Wähler und nicht umgekehrt.

Das ist nicht überall in Europa so.

Es ist kaum vorstellbar, dass es den Deutschen einmal erlaubt wird, in einer Volksabstimmung ihre Meinung zur Mitgliedschaft der BRD beim Euro, bei der Nato oder bei der EU kundzutun. Auch hat der Katalane im Gegensatz zu dem Schotten kein Selbstbestimmungsrecht.

Die EU ist grundsätzlich gegen Volksabstimmungen, weil sie bei solchen “Eskapaden” nicht sicher sein kann, dass die Wähler “richtig entscheiden” werden.

Unvergessen die Äußerung Wolfgang Schäubles und Jeroen Dijsselbloems am Höhepunkt der Griechenland-Krise, wonach die Entscheidung der Syriza-Regierung,  ihre Unterschrift unter dem vereinbarten Rettungspaket von einer Volksabstimmung abhängig zu machen, ein Vertrauensbruch sei.

Die EU hat aber ein Patentrezept, falls eine unvermeidbare Abstimmung zu einem “falschen Ergebnis” führen sollte: Den Mitwirkenden wird mitgeteilt, dass sie ihr Votum so oft wiederholen müssen, bis das “richtige Ergebnis” herausschaut.  Danach wird allerdings kein weiteres Votum zugelassen, das Ergebnis ist dann endgültig.

Leider hat das britische Parlament schon im Jahr 1604 diesen Trick durchschaut und eine interne Regel aufgestellt.

Diese schreibt vor, dass die Regierung einen unveränderten Gesetzestext dem Parlament nicht öfter als zweimal vorlegen darf, wenn das Parlament seine grundsätzliche Ablehnung desselben klar gemacht hat.

Erstaunlich ist, dass Frau May und ihre Berater dies nicht gecheckt haben. Man hat wirklich den Eindruck, sie haben sich inzwischen alle so tief in die politische Kultur der EU integriert , dass sie vergessen haben, wie das politische System ihres eigenen Landes funktioniert.

Diese taktische Inkompetenz begann mit den Verhandlungen für das Austrittsabkommen.

Frau May hat das Votum des Parlaments, das den Austritt des VK am 29.03.2019 festsetzte, als Freibrief verstanden, jedes beliebige Abkommen mit der EU zu verhandeln und dieses anschließend ohne weitere Rücksprache mit dem Parlament eigenmächtig zu ratifizieren. Leider hat das britische Höchstgericht, als Frau May die Grundzüge des Abkommens mit der EU schon festgelegt hatte, diese informiert, dass nicht sie, sondern das Parlament entscheiden wird, unter welchen Bedingungen Großbritannien aus der EU austritt.

Das bringt uns zu der Grundsätzlichsten aller Unvereinbarkeiten zwischen dem politischen System des UK und jenem der EU.

Die Briten, sowohl das Volk wie auch die Parlamentarier, haben das Prinzip des bedingungslosen Anwendungsvorranges des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht nie akzeptiert. Bekanntlich geht die gängige Rechtspraxis in der EU davon aus, dass EU-Recht ausnahmslos Vorrang vor nationalem Recht hat, auch vor (nationalem) Verfassungsrecht.

Das britische Parlament hat dieses Prinzip auch anerkannt, aber nur unter der Bedingung, dass das britische Parlament seine Zustimmug jederzeit widerrufen kann.

Sehr wenige Menschen in Großbritannien – EU Befürworter eingeschlossen – sind bereit, auf ihr bedingungsloses Selbstbestimmungsrecht zu verzichten.

Was wir in dieser Brexit-Krise beobachten, ist ein Parlament, das seine historisch verbriefte Macht, die Exekutive zu kontrollieren, wieder entdeckt und Parlamentarier, die immer mehr Gefallen an dieser Rolle finden und Tag für Tag an Sebstvertrauen und Gestaltungswillen wachsen.

Diesen Geist wird die EU nicht mehr in die Flasche zurückkriegen. Möglicherweise gibt es schon Entscheidungsträger in der EU, die dieses Parlament und diesen Parlamentarismus lieber draußen als drinnen sehen möchten.

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.