“Unterschied zu heute”: Das Shaming mit den 1956er-Ungarn

Was ist der Unterschied zwischen den Ungarn, die nach dem von den Sowjets niedergeschlagenen Aufstand über die österreichische Grenze geflüchtet sind und den heutigen Flüchtlingen? Die Medien sagen’s dem Volk: Damals wart ihr nicht so hartherzig wie heute. Auf YT ein historischer Wochenschaubericht:

Faktisch gibt es zwischen den Vorgängen vor 60 Jahren und der aktuellen Flüchtlingskrise nur wenig Gemeinsamkeiten – außer vielleicht, dass Hunderttausende die Grenze überquert haben.

Wie überall wird auch hierzulande Geschichte für politische Zwecke verzerrt – im vorliegenden Fall, um die Botschaft anzubringen, dass die vergleichsweise viel ärmeren Nachkriegsösterreicher wirklich noch goldene Herzen gehabt hätten (ein Klischee, das v.a. den ostösterreichischen Landsleuten an ebendieses gewachsen ist).

Im Unterschied zu 2015, als noch offen Vergleiche gezogen wurden, passiert das heute typischerweise  zwischen den Zeilen. Zum Beispiel hier, über Lebenserinnerungen dreier Betroffener.

Die Hilfe kam von Herzen (…) Man gibt lieber, wenn man weniger hat.”

Solche Messages sind nicht unbedingt staatlichen Ursprungs – obwohl sie oft von quasistaatlicher Seite kommen (z.B. aus dem ORF) und obwohl diese politisch angewandte historische Reminiszenz frappant an einen offiziellen Mythos der Zweiten Republik erinnert: dem vom gastfreundlichen kleinen Land an der Nahtstelle der Machtblöcke.

In meiner Jugend diente der Topos jedenfalls der Selbstbeweihräucherung eines jungen Staatswesens, das sich seiner selbst noch nicht ganz sicher war.

Heute geht es eher um die unterschwellige Aufforderung, das gleiche goldene Herz auch gegenüber den Migranten der Jahre 2015 und 2016 zu beweisen.

Damals entströmte die Botschaft sozusagen staatlichen Schulbuchkommissionen, heute kommt sie von Leuten, die im Sinn Nassim Talebs no skin in the game haben.

Eines muss man den damaligen Regierenden jedenfalls zugute halten: Sie zeigten Flagge.

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Sie zeigten, dass sie einereits gewillt waren, die Landesgrenzen zu schützen und andererseits, den noch neuen Verpflichtungen eines Neutralen nachzukommen.

Das taten sie, indem sie gerade erst gebildete Bundesheereinheiten  – die vormalige “B-Gendarmerie” – an die Grenze schickten.

Hätten die Interventionstruppen des Warschauer Pakts versucht, die teilweise bewaffneten Ungarn über die Grenze zu verfolgen, wäre das ein ziemliches Desaster geworden – für die Flüchtlinge, aber auch die Österreicher. Die Zweite Republik, die gerade einmal ein Jahr vorher unabhängig geworden war, hätte zu bestehen aufgehört.

Drittens zeigte Wien auch, dass es bereit war, den Verpflichtungen der 1951 ins Leben gerufenen Genfer Flüchtlingskonvention nachzukommen – nämlich Leute, die (z.B.) wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt wurden, aufzunehmen.

Das ist sicher nicht leicht gewesen, weil die Aufnahme von 200.000 Menschen binnen zwei Wochen ein großes logistisches Problem ist – es hatte aber nix mit der Gastfreundschaft einer Regierung oder gar dem Mitleid der Menschen da draußen zu tun.

Es hatte mehr mit staatlicher Selbstbehauptung sowie dem Wunsch zu tun, Vertragstreue zu demonstrieren. Vertragstreue gegenüber dem Neutralitätsgesetz (d.h. eigentlich ggü. dem davor unterzeichneten Staatsvertrag) sowie gegenüber der Flüchtlingskonvention (es bestand damals kein Zweifel, dass es sich wirklich um Flüchtlinge gemäß diesem internationalen Abkommen handelt).

Von den in Lagern Aufgenommenen blieben 18.000 Menschen, ein Zehntel, in Österreich – und integrierten sich in Windeseile (was durch eine rasch wachsende Wirtschaft erleichtert wurde).

Bis zum Jahr 1968, dem Prager Frühling, blieb eine solche Flüchtlingswelle ein Einzelfall (wahrscheinlich “dank” des Eisernen Vorhangs).

Wirkliche Unterschiede zu heute bestehen unter anderem darin,

  • dass die Republik allein in den ersten neun Monaten 2016 19.288 Flüchtlinge mit einem Status und den Anspruchsberechtigungen ausgestattet hat, die dem von Konventionsflüchtlingen entsprechen, siehe hier, S. 14 – nach 19.003 im Jahr davor, siehe ebenfalls Seite 14;
  • dass selbst unter den heute Anerkannten kaum Flüchtlinge gemäß Genfer Konvention sind. Bei den akuten Fällen handelt es sich höchstens um Vertriebene des syrischen “Bürgerkriegs” (das zu zwei Dritteln auch nicht); sowie
  • dass die heutige Grundversorgung der Migranten unvergleichlich besser ist als Unterbringung und Versorgung der ungarischen Flüchtlinge 1956.

Zugestanden, Österreich ist heute auch sehr viel reicher als damals. Aber von Kleinkariertheit oder Knausrigkeit kann 2016 nicht die Rede sein – nicht in und nicht zwischen den Zeilen.

Unabhängiger Journalist

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