Der Stanforder Althistoriker Ian Morris, der in den Midlands aufgewachsen ist, hat sich wieder über die klassische Antike hinaus gewagt und einen seiner meist viel beachteten Ausflüge in die Big History absolviert.“Geography is Destiny. Britain and the World: A 10.000 year History” ist der tiefen Vergangenheit und nahen Zukunft der größten britischen Insel gewidmet – ein Buch, das er Mitte 2016, am Tag nach dem Brexit-Referendum zu schreiben begonnen haben will. Angesichts des nun vollzogenen scheinbaren Austritts UKs aus “Europa” fehlt Morris zwar der in “europhilen Kreisen” schicke Schaum vor dem Mund, wer seinen geopolitisch kalauernden Titel jedoch als plakatives Bekenntnis zu einem “nicht-europäischen, globalen Britannien” interpretiert, liegt auch falsch.
Morris Darstellung läuft nämlich darauf hinaus, dass Britannien mit Ausnahme der vergangenen 500 Jahre Teil des europäischen Festlands war,
- zuerst “rein naturräumlich”, weil es (zumindest während der Glaziale) noch eine Landverbindung gab,
- seit dem Ende der letzten Eiszeit aber, als der Kanal im Zug der damaligen Erderwärmung entstand, auch politisch und militärisch.
Danach folgten, beginnend mit John Cabot, 500 Jahre Inseldasein zunächst bloß transatlantischen Zuschnitts, schon bald aber mit weltweiten kommerziellen und machtpolitischen Ambitionen
(ein Reich, das seit den Tagen Napoleons auf dem Kontinent als “perfides Albion” bekannt ist). Bis zu diesem Zeitpunkt seien die Engländer und ihre keltischen Nachbarn nur die “armen Cousins” der Kontinentaleuropäer gewesen, Stonehenge hin oder her.
Der neuzeitliche “Pivot” hat laut Morris verschiedene Ursachen und eine frühe davon soll sein, dass das England der Tudors erstmals eine schlagkräftige Flotte ins Leben gerufen hat, die – unerwünschte ! – Eroberungsversuche vom Festland (sowie aus dem Norden) unterbinden konnte.
Nach dem Ende der Armada 1588 gelang keinem Feldherren mehr, was Cäsar und Wilhelm dem Eroberer noch geglückt war und woran sich später Napoleon und Hitler die Zähne ausgebissen haben.
Natürlich spielten
- davor noch die Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche unter Heinrich VIII sowie, ab dem 18. Jahrhundert,
- die ebenso großartigen wie fiesen Geschäfte mit den Eingeborenen dieser Welt eine tragende Rolle -
- um mit Blick auf Festlandeuropa auf die praktische Einführung der Balance of Power-Doktrin nicht zu vergessen.
Die Goldene Zeit des Empires sei freilich erst kürzlich (1945 ff) schon wieder zu Ende gegangen,
zuerst unter dem sanften, quasi familiären Druck der Vettern von jenseits des Großen Teichs, zunehmend aber wegen der Konkurrenz Ostasiens, erst Japans und der “Tigerstaaten” und zuletzt wegen jener der rasch wachsenden Volksrepublik.
Für jede dieser Epochen gibt es quasi als Leitmotiv eine Landkarte.
Da wäre für den Zeitraum von etwa 8.000 vor bis ca. 1.500 nach Christus einmal die mittelalterliche Hereford-Map,
in der Jerusalem im Mittelpunkt steht und “Europa” in die linke untere Ecke gepappt ist (wobei die britischen Inseln selbst für scharfe Augen kaum erkennbar sind).
Für die soeben entschwundene Glanzzeit Englands/Britanniens steht hinwiederum die McKinder-Map,
die Karte eines britischen Geographen, der wegen seiner Heartland-Theorie auch hierzulande einigen ein Begriff ist.
Diese zeigt die altbekannten Küstenlinien und Proportionen, wie sie die Westler aus ihren Schul-Atlanten kennen (freilich nicht zwingend mit der Insel im Mittelpunkt).
Die letzte leitmotivische Karte ist schließlich die sg. Money-Map, die Morris in seinem Teil 3 erläutert und deren Reichweite, wie er glaubt, sich von 1945 bis 2103 erstreckt (erstrecken wird).
Sie zeigt die aktuellen Berge v.a. von Finanzkapital (aber auch von Realkapital) in Nordamerika, Europa und Asien.
Mit einer “tiefenhistorischen” Begründung, die bis auf eine Buchveröffentlichung 2013 zurückgeht, verficht Morris die auch ansonsten weit verbreitete Ansicht, dass die nähere Zukunft Ostasien im allgemeinen und speziell China gehöre
und dass das, was der Autor als “Maßstab der Zivilisation” ansieht, in etwa um 2100 ausgeglichen sein wird (zwischen “West” und “Fernost”).
Diese Erwartung hat etwas mit Morris Blick auf die lange Geschichte Chinas und Europas zu tun,
sie soll/kann an dieser Stelle aber nicht ausführlicher diskutiert werden.
Energieblinder Geo-Histor
Gestattet sei hier einzig der Hinweis, dass – wie u.a. hier zu besichtigen – sowohl Asien als auch China schon heute Nettoimporteure von dichter Energie sind
sowie die Prophezeiung, dass sich diese Abhängigkeit in den kommenden Jahren nur noch verschärfen wird.
Wie, bitteschön, sollen China (oder auch Indien) bestimmen, wo’s international lang geht, wenn sie nicht (oder zu wenig) über jene Ressourçe verfügen, deren Mangel schon Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg das Genick brach (Erdöl)?
In der Volksrepublik scheint nicht einmal mehr mit der Kohle viel los zu sein, die ja den Spurt der vergangenen 20 Jahre befeuert hat.
Das alles ist Larifari, den sonst nur noch ein paar KPCh-Funktionäre oder verblendete westliche Erneuerbaren-Dümmel glauben.
Und wenn wir nun schon einmal bei der Kritik angelangt sind (die eigentlich ja erst nach dem Lob kommen sollte):Wie kann man ein Buch schreiben, das “Geographie ist Schicksal” im Titel führt, das im Text aber lang und breit das genaue Gegenteil schildert?
Dass nämlich Kanal und Nordsee in Proto- sowie im mittelalterlichen Britannien “highways, not barriers” gewesen seien, zwischen 1500 und 2000 aber wieder die britische splendid isolation ermöglichten.
Da helfen letztlich auch sophistische Haarspaltereien nichts mehr (“meaning of geography”).
Inhaltlich ist dieser Autor schon einmal weiter gewesen, in Foragers, Farmers and Fossil Fuels nämlich (2015) und in Teilen eben auch im zwei Jahre davor erschienenen “Measure of Civilization”.
In diesen beiden Büchern sah sich Morris noch die “energy capture” pro Kopf während der langen Geschichte an und brachte deren Quantität in Zusammenhang mit dem jeweiligen Stand der sozialen und kulturellen Entwicklung
(was diesen Blogger regelrecht begeistert hat – siehe u.a. hier).
Was 2015 für historische Gesellschaftsformationen gegolten hat, gilt anscheinend nun für staatliche Akteure nicht mehr – obwohl diese auf dichte Energie noch dringender angewiesen waren (sind) als Menschen/Gesellschaften -wenigstens so lange solarbetriebene Panzer und mit Biofuel bewegte Jagdflugzeuge noch nicht in Massenproduktion gegangen sind.
Mag ja sein, dass “hard power” nicht alles ist, aber ohne “hard power” ist im Wettkampf der Staaten/Zivilisationen alles nichts
- wenigstens nicht bisher und nicht in Auseinandersetzungen um die Welthegemonie.
Ian Morris, Geography Is Destiny: Britain and the World, a 10,000 Year History. 2022
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