Eine starke Seite von “Slouching” ist der Verzicht auf Ökonomen-Jargon sowie auf scheinpräzise mathematische Formeln, wie sie in DeLongs Berufsstand ebenfalls sehr beliebt sind. Stattdessen verwendet der Autor Alltagssprache und Metaphern, was die Lektüre erleichtert. So ist das Bild von der “shotgun marriage” zwischen Friedrich von Hayek und Karl Polanyi (bei der John Maynard Keynes die Flinte in der Hand hält) in mancher Hinsicht problematisch -
es ist für die Zeit nach ’45 unter dem Summenstrich aber “mehr richtig als falsch”, regt zum Schmunzeln an und prägt sich ein.
Verdienstvoll auch der Hinweis, dass zwischen dem Beginn der sg. Industriellen Revolution und dem Einsetzen des stürmischen Wachstums noch etwa hundert Jahre verstreichen,
dass in diesem Zeitraum die “malthusianische Falle” im Wesentlichen aber intakt bleibt. Viele, ich inklusive, tendieren dazu das falsch einzuschätzen oder zu vergessen.
Drittens macht DeLong den Kontrast zwischen der Abertausende Jahre währenden Stagnationsperiode seit der Jungsteinzeit und dem überschießenden Wachstum im 20. Jahrhundert überdeutlich.
Das ist zwar nicht wirklich neu, kann aber nicht deutlich genug herausgestrichen werden. DeLong gelingt eben dieses in seinem Text eindringlich.
DeLongs unmittelbare Auslöser des stürmischen Wachstums ab 1870 sind:
- das Entstehen industrieller Forschungslabore und
- moderner Kapitalgesellschaften (“corporations”)
- sowie die Globalisierung des Welthandels, die mit dem 1. Weltkrieg freilich zunächst einmal “ausgesetzt wurde”.
Erst diese Entwicklungen. die gewissermaßen “im Überbau”, in der Software des Wirtschaftssystems, stattfanden, hätten den take off der Produktion ermöglicht.
Freilich stellt unser an Marx geschulter Ökonom keineswegs die entscheidende Rolle der sg. Produktivkräfte (“Technologie”) in Abrede
- aber die waren spätestens seit James Watt ja bereits hyperaktiv ohne eine Produktionsexplosion hervorgerufen zu haben,
Die dichte Energie des “langen 20. Jahrhunderts”
Dieser Blogger hält gegen DeLongs Perspektive, dass die für 1870 ff. genannten Faktoren wichtig gewesen sein mögen
- dass diese aber bloße “Epiphänomene” der überreich zur Verfügung stehenden Primärenergie waren (siehe dazu den Chart “über dem Falz”).
Das “Gilded Age” markiert nicht mehr als die ersten zarten Anfänge einer Art exponentiellen Kurve,
aber von 1870 bis 1910 hat sich der weltweite Verbrauch von Primärenergie aus Kohle immerhin mehr als verfünffacht (von umgerechnet 1.642 auf 8.656 TWh), während der Holzverbrauch um etwa 9 Prozent sank (Zahlen von Vaclav Smil, spätere von BP).
Nach dem Ersten Weltkrieg folgten die großen Zeiten von Öl und Gas, in denen die Kohle Anteile am “Primärenergiekuchen” verlor
(mit der bemerkenswerten Ausnahme der Ära ab etwa 2000, als China mit Kohle seine “nachgezogene Industrialisierung” befeuerte).
2010 betrug laut BP der weltweite Verbrauch an Primärenergie etwa 153.000 Terawattstunden (BP) gegenüber bloß 8.600 im Jahr 1870 (Smil).
Das entspricht einer “Verachtzehnfachung”, was sich mit dem von De Long überschlagsmäßig errechneten Faktor von 21,5 verträgt (für den “value of stock of useful ideas”, was immer das sein soll).
Die selektive Wahrnehmung des Herrn Professors
Diese Epoche ging nach 2010 bereits wieder zu Ende, urteilt DeLong wohl richtig.
Das zeige sich u.a. in der nur “anämischen Erholung” nach der großen Finanzkrise, oder auch am Ende der Globalisierung, wobei der gute Mann nicht widerstehen kann, diese dem 2016 gewählten Donald Trump gleich einmal “ins Bett zu legen”.
Kein Wort darüber, dass das schleichende Ende von Globalisierung und (multilateralem) Freihandel
- im Mainstream spätestens seit 2013 diskutiert wird (“Gridlock”).
- um von radikalen Linken ganz zu schweigen, die das schon vor vielen Jahren thematisiert haben (“Hacia desglobalizacíon”)
Ähnlich irritierend das Vorgehen des Historiker-Aktivisten DeLong zum Thema Trump und COVID.
Dazu findet sich im letzten “Slouching”- Kapitel ein Zitat zur von manchen kritisierten “Hilflosigkeit und Doppelmoral” von Trumps Administration
(angesichts von angeblich “345.323 US-amerikanischen Todesfällen in der COVID-Pandemie”).
Es geht hier nicht um eine Exkulpierung des damals amtierenden Präsidenten.
Wer Donalds Regierungshandeln 2020 oder auch nur dessen selbstschädliche Prahlerei zur “Warp Speed-Reaktion” seiner Regierung noch nach seinem Ausscheiden mit verfolgt hat, braucht weder Scott Atlas noch Abutaleb/Paletta zu lesen, um zu verstehen,
dass sich Trump gegen einen “Zangenangriff” von Medizin-Bürokraten und “liberaler” Journaille wehren wollte und dass er die Formeln von damals auch noch als “Polit-Pensionist” wiederholte.
Was hier zur Debatte steht, ist das Urteilsvermögen eines “Experten”, der nicht nur
- die CDC-Zählweise “hook, line and sinker” schluckt, sondern auch
- nicht imstande scheint, die ca. 500. 000 Mehrtoten, die die USA 2020 gegenüber 2019 aufwies, in einen Kontext zu setzen – etwa mit den 2,8 Millionen, die in den USA jedes Jahr sterben oder den bekannten historischen Seuchen, die Familien ausgerottet und ganze Landstriche entvölkert haben (gegenüber einer Krankheit mit einer “Falltodesrate” von 1,1%, selbst nach den deutlich überhöhten offiziellen Opferzahlen).
- Dieser Mann spricht auch noch noch aus heutiger Sicht von “mächtigen Impfungen”, obwohl diese die (wohl) “pandemiebedingten” saisonalen Mortalitätsspitzen kaum gesenkt haben, noch b) eine Ansteckung verhindern können. Die Frage, welche gesundheitlichen Langzeitfolgen den “Geimpften” ev. ins Haus stehen, ist auch noch nicht beantwortet. Sie ist offen, ebenso wie die Frage, wie weit der historischen Urteilsfähigkeit eines Ökonomen getraut werden kann, der in der brisantesten aktuellen Frage der vergangenen zwei Jahre derart daneben haut.
Grafik: ourworldindata.org, CC by 4.0
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