Zwei Bücher über das dicke Ende des europäischen PeterPanismus

Es gibt Leute, denen an den Orten, über die sie sprechen, nicht zugehört wird.end_innocence_cover Francesco Bongiovanni ist so einer, ein Kassandrarufer, wie es manchmal heißt. decline_fall_europe_coverEr, der vor fünf Jahren noch mit langsamem Verfall und Verarmung gerechnet hatte, sieht den Niedergang Europas nun durch neue Fakten beschleunigt. Agens sei die “Trilogie” aus ungewollter Massenimmigration, Islamisierung und Dschihadismus.

“We have seen that the main preoccupation of Europeans nowadays has evolved from jobs and the economy to an existential one far more related to identity, values and the presence of others. We have seen that an ideologically biased traditional political class has failed to address these and other challenges, leading on one side to a question mark hanging over the sustainability of Europe’s open societies model and, on the other, to the rise of an untested alternative political class that could further divide Europe and take it into uncharted waters.”

Eigentlich, meint Autor Bongiovanni in seinem vor einem halben Jahr erschienenen Europe and the End of the Age of Innocence, gebe es für seinen Heimat-Kontinent heute ja einen Hoffnungsschimmer.

Dieser bestünde darin, dass die Europäer, die vor fünf Jahren noch bereit gewesen seien, in den kollektiven Tod zu dämmern, gerade aus dem Schlummer erwachten und mit einer “Mischung aus Fassungslosigkeit, Furcht und Wut” die Realität wahrnähmen

- sowie, dass sie sich nicht mehr auf konventionelle Politicos bzw. die von diesen kontrollierten handzahmen Medien verlassen könnten.

Das Erwachen habe zum raschen Aufstieg einer nicht erprobten, “alternativen Politik” geführt (worunter Bongiovanni sogar Macrons En Marche! versteht, eine Tarnform jenes Kartells, das in fast allen Staaten Westeuropas die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt hat, siehe z.B. hier.)

Das bedeute freilich noch lange nicht, dass die Aufwachenden den Mut und die Willensstärke aufbrächten, das Ruder herumzureißen – derlei sei, im Gegenteil, extrem unwahrscheinlich.

Auch von eventuell auftretenden neuen Reformkräften im Schoß der alten Mächte sei nichts zu erwarten (eigene Übersetzung):

Ich bekenne, ich habe absolutes Vertrauen in die Fähigkeit der regierenden ‘Eliten’, dass sie das Schiff auf Kurs halten um den Eisberg frontal und mit Höchstgeschwindigkeit zu rammen.”

Das Hauptmotiv, das ihn selbst bewogen habe, ein sequel zu seiner Analyse des Jahres 2012 zu machen, sei, dass sich seit damals wesentliche neue Fakten ergeben hätten, die geeignet seien, langsame Fäulnis zu einer veritablen Talfahrt zu machen – als da wären:

  • der Brexit, der zum ersten Mal demonstriere, dass die viel beschworene “europäische Einigung” ein sehr wohl umkehrbarer Prozess sei;
  • die von der deutschen Kanzlerin ermöglichte, von ihrer Basis aber abgelehnte Masseneinwanderung des Jahres 2015,
  • die Wahl Donald Trumps in den USA, die Europa dazu zwinge, auch in Sachen äußere Sicherheit für sich selbst zu sorgen sowie
  • der Einzug einer rechtsextremen (“far right”) Partei in den deutschen Bundestag 2017.

Zu allem Überfluss sei die ökonomisch weitaus stärkste Kraft in der Europäischen Union, Deutschland, nicht in der Lage zu führen.

Die Deutschen stellten der Gemeinschaft auch keinerlei “öffentliche Güter” zur Verfügung, die sie legitimieren würden, eine solche Führungsrolle zu übernehmen. Auch nötigten sie dem südlichen Teil der Union eine wachstumshemmende Austeritätspolitik auf.

Schon deshalb sei klar, dass

Europa heute in schlechterer Verfassung ist als vor fünf Jahren, aber in besserer Verfassung als es in fünf Jahren sein wird.”

***

Grundsätzlich hält Bongiovanni an seiner ernüchternden, nie ins Deutsche übersetzten Bestandsaufnahme von 2012 fest, speziell daran, dass

  • die EU eine Tinguely-Maschine darstelle, eine jener Maschinen-Skulpturen, die zum Markenzeichen eines 1991 verstorbenen exzentrischen Schweizer Künstlers geworden sind – bewegliche Spektakel-Apparate ohne erkennbaren Zweck; das monetäre Euro-System sei zwar kein Selbstzweck, sagt Bongiovanni, habe aber eine zutiefst fehlerhafte Architektur, die nördliche und südliche Länder auseinanderdriften lasse.
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Tinguely-Maschine Zürich, Wiki Commons
  • Das Hauptproblem Europas gehe freilich nicht auf das Konto der EU. Es handle sich um eine bereits in den Nationalstaaten grundgelegte civilization of entitlements, ein Nachfolgemodell des klassischen Wohlfahrtsstaats. Sie reiche in ihren Anfängen bis in die wachstumsstarken Jahrzehnte nach 1945 zurück. Bongiovannis Zivilisation der Sozialansprüche ist freilich auch danach immer nur gewachsen – unbeirrt von Krisen und niedrigerem Wachstum, sodass Sozialbetrug nach Art Europas ein “perfect crime” geworden ist, ein eigentlich legaler Schwindel, der es Heutigen erlaubt, auf Kosten ihrer Nachfahren zu leben: “Eines ist sicher: die Europäer sind zweifellos clever (…) Sie haben den größten Betrug der Menschheitsgeschichte ausgeknobelt – einen, bei dem das Risiko geschnappt zu werden, null ist. Künftige Generationen zu bestehlen bedeutet, die Früchte seines Raubzugs gefahrlos genießen zu können, wissend, dass man nicht mehr am Leben sein wird, wenn künftige Generationen Rache fordern.”

Natürlich gesteht sich das von denen, die es praktizieren, niemand ein. Sie sind – wie Täter und Nutznießer beteuern – unschuldig.

Es ist jene selbstzufriedene, vorgetäuschte Unschuld, deren Ende im Buchtitel konstatiert wird.

Die geschilderte Geisteshaltung ähnelt der naiven Arglosigkeit der Märchenfigur Peter Pan, eines Buben, der nie erwachsen werden wollte.

Doch was bei einem Kind entzückt, nennt sich bei Erwachsenen Verantwortungslosigkeit und Narzissmus, wie beispielsweise in einem 1983 erschienenen populärwissenschaftlichen Buch gezeigt wird, das sich mit einem diesbezüglichen Verhalten (ausschließlich bei Männern) beschäftigt.

***

Abschließend sei angemerkt, dass dieser Blogger der Diagnose des Autors in vielem, aber längst nicht allem zustimmt.

So etwa ist die Wehklage, es gebe keine “paneuropäischen” (wohl “EU-föderalistischen”) Politiker, erklärungs- bzw. ergänzungsbedürftig.

Wenn Bongiovanni damit meint, es gebe kaum aktive Politiker in den ehemaligen Volksparteien, die ohne Rücksicht auf politische Verluste offen für eine supranationalistische EU eintreten würden, hat er wohl recht.

Das europapolitische offene Visier ist Exponenten von z.B. liberalen oder grünen Zielgruppenparteien vorbehalten.

Die Politicos der ehemaligen Volksparteien schaffen dagegen stillschweigend vollendete Tatsachen, indem sie Verträge mit weitreichenden, “irreversiblen” Folgen unterzeichnen, die, gedeckt von einer willfährigen Journaille, an der Öffentlichkeit vorbeigeschmuggelt werden.

Hier findet sich ein längerer unvollendeter Text dieses Bloggers, der sich mit der österreichischen Variante solcher “Europapolitik mit List und Tücke” beschäftigt. 

“Paneuropäische Politiker” dieses Schlags gibt es tatsächlich zu Hunderten.

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Auch Bongiovannis Deutschland-Aussagen sind zum guten Teil diskussionswürdig, beispielsweise die Einordnung der AfD als far right.

Und es mag sein, dass sich Merkel-Deutschland hinter den Kulissen in öffentlich nicht sichtbarem Powerplay übt. Es handelte sich in diesem Fall aber um ein spezielles Powerplay, in dem die Bereitschaft besteht, zuerst die Interessen der eigenen Wählerbasis zu schädigen.

Merkel hat mit ihrem Alleingang vom September 2015 zuallererst Schaden an ihrer eigenen Basis und am deutschen Rechtsstaat angerichtet.  Erst in zweiter Linie mag sie Europarecht ausgehebelt und die Schengen-Abkommen in tote Gesetzesmaterie verwandelt haben.

Das freilich kann mithilfe der seit Lissabon gültigen Abstimmungsregeln für den Europäischen Rat problemlos “repariert” werden – natürlich zulasten der Deutschen – siehe dazu hier und hier.

Wenn Merkel mit ihrem Alleingang nicht-deutsche EU-Bürger geschädigt hat, hat es sich um Österreicher, Niederländer, Schweden und Finnen gehandelt.

Der von Bongiovanni erwähnte “Tsunami” des Jahres 2015 war ein mitteleuropäisches Ereignis, bei dem nicht-europäische “Flüchtlinge” die Sozialtöpfe von Deutschland & Co. gestürmt haben.

Auch setzt Berlin keinen einseitigen Austeritätskurs gegenüber Athen, Rom, etc. durch.

Budgetäre Austerität herrscht nämlich auch in Deutschland selbst – zum Beispiel im Hinblick auf die eigene bauliche Infrastruktur oder auch die Bundeswehr, wie Bongiovanni selbst erwähnt.

Und dass Deutschland für die Eurozone keine öffentlichen Güter beitrage, kann wohl keine ernsthafte Behauptung ein

- immerhin handelt es sich um eine Volkswirtschaft, die über die Bundesbank für fast 1.000 Milliarden Euro an Drohverlusten geradesteht; und deren Exporteure wesentlich zum positiven Leistungsbilanzsaldo der Eurozone beitragen.

Francesco M. Bongiovanni, The Decline and Fall of Europe. 2012 

Francesco M. Bongiovanni, Europe and the End of the Age of Innocence. 2018

Bild:  Micha L. Rieser via Wikimedia Commons

Unabhängiger Journalist

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