Die kurze Begründung ist: Weil sie außerstande sind, die Zuwanderungskrise auch nur notdürftig zu bewältigen – ganz abgesehen von der wirklich langfristigen Integration, bei denen schon ihre Vorgänger krass versagt haben. Mit dem besten Gewissen und unter Berufung auf EU-Vorgaben fahren sie den Karren an die Wand, indem sie bis zu 50.000 Leute pro Jahr neu ins Sozialsystem einwandern lassen. Es gibt kaum mehr Zeit, diese Entscheider aus ihren Funktionen zu jagen.
Ich sage nicht, dass das austriakische Polit-Gesocks für die gegenwärtige Flüchtlingswelle direkt verantwortlich ist – das wäre wohl ein paar Nummern zu groß und der Ehre zuviel. Aber ich behaupte, dass die österreichischen Regierungspolitiker keinen “ehrbaren Plan” haben, dieses Phänomen so zu managen, dass es für das hiesige Sozialsystem leidlich tragbar ist. Ihr einziger Plan besteht darin, a) die Malaise möglichst lange zu verbergen und danach b) eine Mischung aus Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen zu verhandeln. Man muss nur über den Tellerrand der Frage hinausblicken, wie die Asylwerber im kommenden Winter untergebracht werden sollen.
Die obige Grafik zeigt das krasse Missverhältnis zwischen den neuen Asylwerbern im ersten Halbjahr 2015 (28.311) und den im gleichen Zeitraum erfolgten Abschiebungen (1.150). Die Quellen dafür sind das Innenministerium und die Presse.
Nun könnte man z.B. darüber diskutieren, ob die rechte Säule nicht anders benannt werden und z.B. drei Mal so hoch ausfallen sollte; zum Beispiel, weil die Abschiebungen nach Dublin nicht dabei sind oder weil man alle dazuzählen sollte, die nach Auslaufen ihres Aufenthaltstitels freiwillig ausgereist sind. Man könnte sogar das Vorhaben der Innenministerin, die Abschiebungen zu beschleunigen, berücksichtigen.
Mit ebenso guten Argumenten kann man dann freilich auch die linke Säule aufstocken, beispielsweise indem man den zu erwartenden Familiennachzug mitrechnet.
Das große Bild ändert sich so und so nicht – jedenfalls wäre das für das freie Auge nicht erkennbar. Für dieses macht es keinen Unterschied, ob 1/25 oder 1/15 des heuer um den Faktor 4 vergrößerten Zustroms außer Landes geschafft werden.
Das große Bild besagt, dass sich aus den für 2015 gestellten Asylanträgen eine zusätzliche, “nachhaltige” Einwanderung von konservativ angesetzt 35.000 Menschen ergibt. Werden 2016 tatsächlich jene 130.000 Anträge eingebracht, die man erwartet, ist (nur aus diesem Jahr) eine zusätzliche Einwanderung von weit mehr als 50.000 drin – von bisher “normalen” 10.000 bis 12.000 Neuzugängen pro Jahr.
Das alles ist absolut nicht beherrschbar. Nicht einmal für fähigere Leute als unsere heutigen “Polit-Manager”.
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In Ermangelung öffentlich zugänglicher offizieller Projektionen erlaube ich mir eine eigene Grobschätzung, die – wie ich glaube – auf “konservativen”, aber wirklichkeitsnahen Überlegungen fußt. Nicht berücksichtigt werden die Wanderungströme aus EU/EWR bzw. über das Fremdenrecht. Es handelt sich um folgende Prämissen:
- 2015 werden gut 80.000 Neuanträge Asyl gestellt. Das sind fast 60.000 mehr als in einem starken Normaljahr (Durchschnitt 2013/14). Davon werden, realistisch gerechnet, wenigstens 50 Prozent rechtskräftig in Österreich bleiben/”einwandern” – also (zusätzlich) 29.000. Wie kommt man auf diese Quote ? Indem man sich an der bisherigen Anerkennungsquote orientiert. 2014 lag die österreichische Anerkennungsquote Asyl in der ersten Instanz bei 39 Prozent (7.100), dazu wurde 1.900 Mal Schutz aus besonderen Gründen gewährt (BFA) – macht einschließlich der geschätzt 1.000 erfolgreichen Berufungsverfahren (Bundesverwaltungsgericht) für 2014 etwa 10.000 “neue Asylanten” mit rechtskräftigem Titel. Das sind die genannten 50 Prozent (präziser kann man das nicht sagen, weil die EDV-Umstellung im Bundesamt andauert und noch keine Jahresstatistik 2014 vorliegt) (in Deutschland lag die Anerkennungsquote übrigens auch bei 50%). Die aktuelle Anzahl von Abschiebungen ist demgegenüber extrem niedrig. Das resultiert vor allem aus juristischenVerzögerungstaktiken in der Instanz.
- Die 29.000 zusätzlichen erfolgreichen Antragsteller 2015 werden, so die zurückhaltende Annahme, weitere 6.000 Angehörige nachholen. Ergibt summiert die oben erwähnten 35.000 Migranten mehr (die Schätzung für die Antragsteller 2016 ist eine “Hochrechnung” daraus). Der hier angenommene Nachzug ist eher niedrig, weil anerkannte Asylanten und sonstige Schutzberechtigte Eheleute und alle ihre minderjährigen Kinder hereinholen dürfen – und das sind traditionell eine ganze Menge. 2014 holten sie offiziell 2.000 Angehörige nach Österreich. Diese Zahl muss wegen der zeitlichen Verzögerung des Familiennachzugs aber auf ein starkes Normaljahr bei den Neuanträgen bezogen werden (hier: Durchschnitt aus 2013 und 2014, 23.000 Anträge). 2015 werden die Neuanträge aber fast vier Mal höher sein.
- Asylberechtigte/Schutzssuchende haben mit Ausnahme einzelner “Versicherungsleistungen” vollen Zugriff auf das Sozialsystem (die Kosten bestimmter Versicherungen wie KV müssen ohnedies vom Steuerzahler abgegolten werden). Es ist ziemlich realitätsfremd anzunehmen, dass ein größerer Teil der sprachunkundigen Zuwanderer bald in eine reguläre Beschäftigung gebracht werden und dass diese Menschen sich selbst tragen können – geschweige denn, dass sie Steuern und Beiträge für nachfolgende Einwanderergenerationen zahlen würden.
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Eben diese Fiktion wird von den Lieblings-Interviewpartnern unserer Hofberichterstatter aber ständig genährt – ob sie nun Aiginger oder Felderer heißen. Die Professoren stellen insofern einen Sonderfall dar, als sie über eine intime Kenntnis der Mechanismen und Größenordnungen von Ökonomie und Sozialsystem verfügen; es kann, zweitens, davon ausgegangen werden, dass sie die Grundrechnungsarten beherrschen.
Diese Leute sind Zeitzeugen jahrzehntelangen, multiplen Staatsversagens z.B. im Arbeitsmarkt und bei den Verwaltungs- und Pensionsreformen. Allein deswegen müsste ihre Grundhaltung eigentlich ein wenig skeptischer sein. Aiginger und Felderer sind jedenfalls hochgradige Kenner/Insider, die auf den ersten Blick erkennen müssten, dass ihre Vision von der produktiven Beschäftigung selbst dann nicht funktioneren kann, würden sich alle Beteiligten “am Riemen reißen”.
Woher sie die Stirn nehmen zu prophezeien, dass sich die “Flüchtlinge” in absehbarer Zeit in gute Steuer- und Beitragszahler verwandeln und dass die Angelegenheit nur eine Sache von ein paar Hundert Budget-Millionen sei, ist völlig unbegreiflich. Das kann nur aus der Öffentlichkeit unbekannten, sachfremden Motiven kommen (eine andere Erklärung erschließt sich mir nicht).
Die Professoren-Expertise wird von den Politicos zur Rechtfertigung ihres weltfremden Agierens benutzt, bei Entscheidungen, die sie aus rechtlichen Gründen ohnedies so treffen müssen, angeblich.
Eigentlich müssten nicht nur Politiker und Beamte für von ihnen verursachte Schäden besser in die Haftung genommen werden, sondern auch Ezzesgeber und sachkundige Kommentatoren dieses Schlages. Gerade diese.
Was diese Experten jetzt für unbedenklich erklären, ist das Gegenteil dessen, was ihnen noch vor vier Jahren als anzustrebendes Ziel gegolten hat: eine “restriktive”, an den “eigenen” wirtschaftlichen Interessen orientierte und insofern rationale Immigrationspolitik, etwa nach dem Beispiel der USA oder Australiens. Eine solche war nie Sache der radikalen Moralisten in- und außerhalb unserer Asylindustrie, und auch nicht der beteiligten (krypto)trotzkistischen Kader, die mit der Immigration endlich “die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollen”.
Aber es war eine damals konsensfähige Vision, konsensfähig unter Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und ihren Monopol-Experten. Das ist mittlerweile alles über den Haufen geworfen worden.
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Persönliche Nachbemerkung: Geht man von den aktuellen demographischen Gegebenheiten und einem business as usual-Szenario aus, könnte sich mittelfristig sehr wohl ein gap am Arbeitsmarkt ergeben (die Rechenmodelle dazu sind aber wachstumsabhängig und diskussionswürdig). Das Münchener ifo hat eine Menge dazu geforscht, siehe hier.
Es ist aber nicht unbedingt wahrscheinlich, dass die Entwicklung wirklich einem business as usual-Szenario folgt. Es passiert immer wieder, dass das nicht der Fall ist. Unerwartete Diskontinuitäten haben die Karten neu gemischt und selbst die gesündesten demographischen Bäume bis zur Unkenntlichkeit verändert (Zivilisationen, die Bestand haben wollen, müssen damit leben lernen).
Mit oder ohne unerwartete Entwicklungen ist es ziemlich verrückt zu vermeinen, dass die schutzsuchenden Zuwanderer den errechneten Arbeitskräfte-gap adäquat füllen könnten. Das glauben nur gewisse Wirtschaftsforscher und radikale Prediger in der Jeruslamer Al Aqsa-Moschee.
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