Ein Historiker aus Louisiana hat auf fast 1.000 Seiten eine Globalgeschichte der Napoleonischen Kriege vorgelegt und dieser Blogger ist zu wenig spezialisiert um irgendwelche ev. schiefen oder fehlenden Details auszustallieren. Der Text scheint ihm jedoch “forschungsmäßig up to date” – und lesbar ist er auch (nicht selbstverständlich). Statt sich in einer “späten Rezension” zu ergehen, will dieser Blogger hier seine Lesart des Buchs von Mikaberidze zum Besten geben: Es handelt sich um die Frühgeschichte der drei Weltmächte des 20. Jahrhunderts – von Großbritannien, der Sowjetunion (Russland) und den USA.
Natürlich kann man nicht wirklich davon sprechen, dass England erst um 1800 die Weltbühne betreten hätte – das Königreich wird bereits im 17. Jahrhundert zu einer Art “globalen Supermacht” – nach Portugal, Spanien und Holland.
In dieser bereits hervorgehobenen Position allerdings ist das United Kingdom der größte Profiteur des militärischen Scheiterns Napoleons.
Wie Mikaberidze z.B. in den Kapiteln “Britains Expeditionary Warfare” und “Britains Eastern Empire” klar macht, nutzt UK die Jahrzehnte andauernde Megakrise nach der Französischen Revolution dazu
- seinen Zugriff auf Indien zu systematisieren, verbreitern und vertiefen. Den Vorwand liefert die angebliche oder wirkliche Gefährdung des Subkontinents durch Frankreich.
- Die Geschehnisse speziell nach Trafalgar führten dazu, dass die Briten potenzielle kommerzielle Konkurrenten östlich des Kaps der Guten Hoffnung ausradieren konnten, zunächst die Franzosen selbst, die – von Réunion und Mauritius ausgehend -, noch lange nach Trafalgar den britischen Handel “belästigen konnten”, mittels staatlicher Marine oder “parastaatlich” durch Freibeuter mit französischen Kaperbriefen. Verdrängt wurden auch die Holländer, die Vasallen Napoleons und daher “fair game” waren. Bei den Portugiesen, eigentlich Bundesgenossen der Engländer, versuchte man es – scheiterte aber (noch) an den Qing-Kaisern (war sowieso von geringer Bedeutung).
- Auch in der Karibik konnten die Franzosen den Engländern nicht das Wasser reichen – was letztlich freilich nicht den Briten, sondern deren “amerikanischen Vettern” zugute kam.
Womit man bereits beim zweiten, auf den ersten Blick wenig offensichtlichen Profiteur dieser Kriege angelangt wäre – den Vereinigten Staaten, die sich erst 20 bis 30 Jahre vorher ihre Freiheit erkämpft hatten, gegen die Briten
Die jungen USA blieben in den Koalitionskriegen neutral und beteiligten sich nicht an Kampfhandlungen, auch nicht außerhalb Europas.
Freilich waren sie damals noch nicht das, was heute unter den “Staaten” verstanden wird.
Es handelte sich um ein paar Dutzend Siedlungen/Bundesstaaten östlich des Mississippi.
- Das änderte sich mit dem sg. Louisiana Purchase von 1803, als Napoleon ein riesiges, hauptsächlich von “Indianern” bewohntes Gebiet an Washington verkaufte – Französisch-Louisiana, das nach dem Siebenjährigen Krieg zwischenzeitlich an Spanien gefallen war. Am Höhepunkt der Macht Napoleons mussten die Madrider Bourbonen das Gebiet wieder herausrücken und Napoleon verkaufte es umgehend an die Amerikaner weiter. Das war das Sprungbrett für die spätere mythische “West-Expansion” des 19. Jahrhunderts.
- Davor konnte man sich mit einer Mischung aus Gewalt und Diplomatie noch Florida unter den Nagel reißen. Das passierte zwar erst ein paar Jahre nach dem Wiener Kongress – aber wenn das spanische Weltreich in den Napoleonischen Kriegen nicht in seine Bestandteile zerlegt worden wäre, wäre das für Washington nicht so einfach gewesen.
- Die europäischen Kämpfe waren auf vielfältige Art Auslöser der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika, die ihrerseits zur Entstehung mehrer Dutzend selbständiger Staaten führten. Das Herrschaftsgebiet der spanischen Krone hatte davor von Utah bis Feuerland gereicht. Das letzte Drittel der US-Expansion zur Westküste passierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wieder mit einer Mischung aus “Kolonisten-Freiwilligkeit” und militärischer Gewalt.
- 1823 schließlich proklamierte ein US-Präsident die sogenannte “Monroe-Doktrin”, in der die Americas zur US-amerikanischen Hemisphäre erklärt wurden, wo Europäer (und andere) nichts verloren hatten. Die einzigen, die ggf. dagegen anrennen konnten, wären die Engländer gewesen, aber die wurden a) von den spanisch sprechenden criollos abgelehnt und b) haben sich Briten und Amerikaner ab 1815 sowieso wieder “versöhnt”.
Der dritte “langfristige Sieger” der Napoleonischen Kriege war Russland.
Das Zarenreich hatte bei den Gewaltorgien nach 1800 den nach Frankreich höchsten Blutzoll zu entrichten und der Gewinn, den Alexander I aus dem Sieg über Napoleon zog, ist auch wenig offensichtlich.
Man könnte sogar die Meinung vertreten, Russland habe von den Friedensschlüssen nach dem Ende Napoleons kaum profitiert und das bisschen, das im Norden (Finnland), Osteuropa (Kongresspolen) und im Kaukasus (Georgien) übrig geblieben ist, sei der moderate, aber unabdingbare “Lohn” für eine Regionalmacht, die nach überschaubaren Opfern in einem zwischenstaatlichen Konflikt der Sorte 0815 siegreich geblieben ist.
Weder war Russlands Griff nach den Donaufürstentümern oder dem Südbalkan erfolgreich,
noch konnte es dem “riesigen See, der uns gehört” entfliehen und durch Dardanellen und Bosporus ins Mittelmeer segeln. Der Todeskeim war gelegt, aber das Osmanische Reich lebte noch weitere 100 Jahre.
Und es ist wohl auch wahr, dass das neu entstandene Kaiserreich Österreich und Fürst Metternich viel zu dieser Realität/diesem Anschein beigetragen haben.
Dehnt man den historischen Blick freilich auf die der fraglichen Zeit vorangehenden Jahrzehnte aus – also auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts -, wird klar, dass die Niederlage Napoleons bedeutete, dass St. Petersburg dadurch die enormen Landgewinne konsolidieren konnte, die es unter Katharina II etc. gemacht hatte.
Das brachte natürliche Ressourcen und strategische Vorteile sonder Zahl für die “russische Zentralgewalt” – seien es die Monarchisten des 19. oder die Kommunisten des 20. Jahrhunderts.
Das – und nicht Hl. Allianz & Co. – ist bis heute die Ursuppe des russischen Exzeptionalismus.
Alexander Mikaberidze, The Napoleonic Wars: A Global History. 2020
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