Die französischen Souveränisten und ihr synthetischer Präsident

polony_coverEine Gruppe französischer Souveränisten, die soeben ein Buch über den Triumph des sanften Totalitarismus veröffentlicht hat, hat das Hauptbeweisstück für ihre These sozusagen nachgereicht bekommen: Emmanuel Macron, der unabhängige Kandidat aus der Retorte politischer Spin-Doktoren, hat bei den Präsidenten-Wahlen einen überlegenen Sieg eingefahren. Ein besseres Beispiel für einen synthetischen Politiker des sanften Totalitarismus gibt es nicht. Eine Rezension.

C’est un exercice délicat d’affirmer aujourd’hui que nous ne vivons plus vraiment en démocratie et que nous baignons tranquillement dans le soft totalitarisme.”

In der Tat – vor allem, wenn man sich dem Vorwurf aussetzen muss, für eine Hyperbel, eine große Geste und ein paar hochtrabende Worte die Angemessenheit der eigenen Wortwahl oder die Ehrlichkeit der Beschreibumng eingetauscht zu haben.

Totalitarismus?

Waren das nicht die politischen Systeme des 20. Jahrhunderts, in denen Polizei um vier in der Früh an die Tür klopfte um Verdächtige zu Folter-gestützten Verhören abzuholen?

Systeme, in denen Dissidenten keine vernünftigen Erwerbsmöglichkeiten mehr finden konnten, weil die politische Führung es nicht wollte;

oder wo der Schutz von Leib, Leben und Gut einzelner stillschweigend eingestellt wurde (woraufhin oft Gangster auftauchten, die sich eben dafür interessierten; im Mittelalter nannte man so etwas vogelfrei).

So weit ist es in den heutigen politischen Systemen des Westens aber (noch) nicht..

Dort wird nur zur Denunziation aufgerufen oder gegen missliebige Parteien/Politiker und Einzelpersonen gehetzt, nötigenfalls unter Berufung auf “rechtsstaatliche Garantien” (Versammlungs-, Presse-, Vertragsfreiheit).

Geheime Staatspolizei vor der Türe und Lager für Andersdenkende scheinen jedenfalls noch weit in der Zukunft zu liegen.

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Dennoch pochen Natacha Polony & das Orwell-Komitee – also ähnlich gesinnte Journos – ausdrücklich auf den Begriff Totalitarismus sowie ihre dahinter stehende Inspiration aus dem Roman 1984.

Die Pointe dabei ist, dass für diese Beobachter Orwell 2017 nicht in einem spätstalinistischen Empire des Ingsoc stattindet, sondern in einem internationalistischen, neoliberalen Imperium, das nach der Theorie der radikalen Linken, aber nach der Praxis eines monopolistischen Finanzkapitalismus funktioniert.

Die Demokratie ist insbesonders durch eine furchterregende Allianz zwischen den Finanzmärkten und neuen Technologien bedroht, die vom individuellen Wohlgefallen (bon plaisir) geheiligt wird. Indem sie virtuell und planetarisch wurden, haben sich diese Kräfte von jedem Territorium abgekoppelt und befinden ab sofort außerhalb des Einflussbereichs aller Volkswillen (Mehrzahl).” (eigene Übersetzung)

Die Schrankenlosigkeit der Märkte und der (ursprünglich proletarische) Internationalismus sind für Polony & Co. ein und dasselbe  Phänomen- weswegen blauäugige no border-Aktivisten und gewissenlose Ferengi-Kapitalisten auch über eine gemeinsame Familie verfügen.

Die Vorfahren der beiden kommen, wie Polony erklärt, aus den USA und wurden von dort in ein fremdes (?) europäisches Milieu transplantiert. Es handelt sich bei ihnen um die Chicago-Boys Milton Friedmans und die Aktivisten der political correctness aus 1968.

Dieser Familienzweig hat noch ältere, genuin amerikanische Wurzeln, nämlich – ausgerechnet – die Bigotterie protestantischer Flüchtlinge aus dem frühneuzeitlichen Europa.

Der ebenso selbstgerechte wie überstrenge Missionseifer der protestantischen Pilgerväter feiert in der Unduldsamkeit bestimmter  GBLT-Aktivisten und Radikalfeministinnen eine Auferstehung.

“Die Kleinlichkeit und die Ressentiments, die sich in den Forderungen von Schwulen, von Parteigängerinnen der Gender-Theorie und von Black Pride bemerkbar machen, werden (in Tocquevilles Passagen zu erwähnten religiösen Gemeinschaften) auf prophetische Art beschrieben.”

Heute, Jahrzehnte nach der Revolte auf den Campussen

sind die Minderheiten, die damals (nur) von einigen Marginalisierten verteidigt wurden, zu Heiligen Kühen der Journalisten und der großen Regierungsparteien aufgestiegen. Die Forderungen verschiedener Minoritäten nehmen den zentralen polit-medialen Raum ein und scheinen die öffentliche Debatte im alten Europa zu bestimmen. Im Herz dieses Prozesses aber steht der mehr oder weniger bewusste Wunsch, die amerikanische Macht zu imitieren.”

Nämlich durch die EU bzw. deren in den 1980er-Jahren einsetzenden, angeblich alternativlosen Staatenbildungsprozess.

Zu diesem Zweck müssen die

  • europäischen Staaten dekonstruiert und deren
  • Staatsvölker aufgelöst werden (“L’art de dissoudre les peuples”).

Dass die Mitglieder des “Orwell-Komitees”, die sich immer wieder als demokratische französische Republikaner zu erkennen geben, sich auch gern zur konkreten Politik äußern, zeigt sich im letzten Kapitel des Buchs:

Le local doit s’imposer sur le global, das Lokalität muss sich gegen die Globalität durchsetzen, heißt es dort.

Das Kapitel liest sich ein bisschen wie die Regierungserklärung eines linken Souveränisten etwa im Stil Jean-Pierre Chèvenements, der vor 15 Jahren zum letzten Mal an Präsidentenwahlen teilgenommen hat.

Der Front National der Marine Le Pen ist mit seinem Verfassungspatriotismus, dem ein wenig krampfhaft wirkenden Laizismus (Kopftuch) und seiner etatistischen Wirtschaftspolitik heute nicht weit von diesem “Programm” entfernt, der FN, jene

Vogelscheuche, die es erlaubt, mit einer extremistischen Bedrohung herumzuwedeln, die nie ernsthaft ins Gewicht gefallen ist, und die vor allem dazu dient, Fragen über die Integration von Neunankömmlingen zu verteufeln.” (eigene Übersetzung)

Für das feindliche System biete der Front jedenfalls die Möglichkeit zur Abhaltung zweier Hass-Minuten nach Orwells Romanvorlage, sagen Polony & Freunde.

“Über das Gesicht Jean-Maries und heute Marine Le Pens ist der Front zum Emmanuel Goldstein der multikulturellen Linken geworden.”

Die Botschaft des Komitees ist: Die EU brauche keine “Reformen” nach dem Muster Muttis und der unabhängigen Makrone, “Reformen”, die nur die Vollendung des in diesem Blog ausführlich beschriebenen  Kidnappings der Nationalstaaten sind.

“Europa”, sagen diese Kräfte, bräuchte eine völlige Neugründung, wenn man das politische Einigungsprojekt nicht als hoffnungslos aufgeben wolle.

Spätestens an dieser Stelle wird’s haarig.

Was in diesem Zusammenhang vorgeschlagen wird, ist nämlich eine Mischung aus “gaullistischer Außenpolitik” und einem typisch französischen Dirigismus/Etatismus, dessen Ursprünge bis ins Zeitalter des Merkantilismus zurück gehen.

Also:

  • Raus aus dem multilateralen Freihandelsregime “auf Autopilot”, weg mit TTIP, TISA, CETA, etc. – aber her mit Präferenzzöllen, der “steuerlichen Harmonisierung” (der anderen) sowie mit der Züchtung kontinentaler Technologie-Champignons  ;-)    
  • Weg mit den noch überlebenden Beschränkungen des Maastricht-Pakts, dem (“kapitalistischen”) Low cost-Prinzip in der Wirtschaft – dafür aber her mit dem kooperationswilligen nationalen Kapital (im Gegensatz zu den nicht resozialisierbaren Multis).
  • Als Belohnung gibt’s in diesem Drehuch dann auch eine selbstbestimmte ( = von Washington unabhängige) Außen- und  Verteidigungspolitik bzw. eine “kontrollierte Immigration” (als ob die Immigration nach dem Muster Deutschlands 2015 je Frankreichs Problem gewesen wäre!).

Dazu kann man nur sagen: Prost Mahlzeit. Jean-Baptiste Colbert lässt grüßen. Wer benötigt noch Globalisten, wenn er solche Euro-Nationalisten hat?

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Natacha Polony & le Comité Orwell, Bienvenue dans le Pire des Mondes, Le triomphe du soft totalitarisme. Paris 2016

NB: Das Orwell-Komitee hat sich aus urheberrechtlichen Gründen zum Komitee der Orwellianer umbenannt.

Unabhängiger Journalist

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