Der Spenglerianer David Engels ist zu einer Art Aushängeschild “konservativer abendländischer Patrioten” geworden, die freilich nicht minder “europäistisch” erscheinen als die derzeit politisch dominante jakobinisch-josephinistische Subspezies. Engels wendet sich gegen den sattsam bekannten “fleischlosen” Europabegriff, der nicht nur in Brüssel en vogue ist, sondern mit dem auch Oberstufler und Journaille-Konsumenten ständig traktiert werden. Auf der Suche nach der Identität der (West)Europäer ist er inzwischen bei Heilig-Römischem Reich und “faustischem Menschen” angekommen.Wer sich die 110 Seiten von Engels neuestem Traktat nicht antun will, aber ein leidliches Französisch-Hörverständnis hat, gebe sich das eingebundene YT-Interview des Omerta-Magazins.
Engels, ein Belgier deutscher Muttersprache, war in diesem Blog schon einmal, vor sieben Jahren Thema.
Wer freilich glaubt, er könne den gelernten Althistoriker heute noch auf dessen vor 12 Jahren geschriebenen “Weg ins Imperium” reduzieren, hat sich schön geschnitten.
Der seit fünf Jahren in Polen lebende Brüsseler Ordinarius für Römische Geschichte ist sachkundig und ehrlich genug, (auch) das Rom der frühen Kaiserzeit als (Europa) zivilisatorisch “vollkommen fremd” zu bezeichnen,
obwohl der Kontinent. natürlich über “antike Wurzeln” verfüge – ebenso wie jüdisch-biblische oder “indoeuropäische” diverser hier lebender Völkerschaften (Germanen, Romanen, Slawen – was ist mit Finnen und Ungarn?).
So richtig in die Gänge gekommen sei Europa aber erst nach der Völkerwanderung, anlässlich der renovatio imperii Karls des Großen, verbunden mit der “Neuerschaffung” der (katholischen) Kirche.
Vielleicht damit’s auf den ersten Blick nicht allzu mittelalterlich anmutet, führt Engels weiter den “faustischen Trieb” ins Treffen,
nämlich die zwanghafte Suche besagten Doktors, die im Guten wie im Bösen grenzenlos sein soll.
Nun ist diese von Goethe entlehnte Sagen-Figur eigentlich etwas genuin Frühneuzeitliches, aber in Engels Interpretation ist der faustus europaeus schon im Mittelalter anzutreffen, als sich dieser auf eine grenzenlose Gottessuche begeben haben soll.
Der europäische Faust hat lt. Engels zunächst nach Christlich-Transzendentem, also Gott, gesucht und erst Jahrhunderte später nach Naturbeherrschung und Technologie, also nach Materiellem & Diesseitigem
- ein Trieb, der genuin europäisch (jedenfalls nicht eklusiv deutsch) und bei Chinesen und div. Muselmanen nicht vorhanden sein soll.
Die hiesige Jugend habe die ihr bisher gebotenen wokistischen und universalistischen Europa-Hologramme jedenfalls gründlich satt, weshalb die heutige Union ein Koloss auf tönernen Füßen sei.
Sie sehne sich nach Transzendenz, Natur, Tradition, natürlicher Familie, Einheit in der Vielfalt und dem Guten, Schönen und Wahren, kurz: nach einem “zivilisatorischen Europa-Begriff”.
Eine auf historisch fundierter europäischer Identität beruhende künftige (Kon)Föderation müsse stark nach außen, aber subsidiär und irgendwie freiheitlich nach innen sein (“freiheitlich” wohl für souveräne Territorialherren)
- ähnlich dem historischen Sacrum imperium (aber eben nicht “deutscher Nation” – derlei ist für Engels ein Unding).
Weder der blutleere universalistische Supranationalismus der Linken noch der enge Nationalismus der Rechten sei eine Lösung.
Als echter Spenglerianer glaubt Engels freilich nicht, dass die europäische Zivilisation dem Tod entgehen wird. Er erwartet aber eine Zeit, in der transzendenter und säkulärer Faustianismus eine “Synthese” eingehen,
eine Epoche, in der die europäischen Traditionen einer “neuen Lektüre unterzogen” würden, ehe auch hier Dekadenz, Petrifizierung und Fossilisierung obsiegten (ein “Schlusspunkt wie im Alten Rom”).
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Nun hat Engels “evidemment” recht, wenn er auf das gegenwärtige gestörte Verhältnis zur europäischen Geschichte vor der Aufklärung bzw. der Französischen Revolution verweist und auch darauf, dass im Fußvolk viele das satt hätten
- wenngleich er tendenziell den entgegengesetzten Fehler begeht, indem er nämlich den “aufklärerisch-antikirchlichen Geschichtsbeitrag” Europas untergewichtet.
Man kann, wenn man will, hier freilich weiter als nur bis ins 18. Jahrhundert zurück gehen. Die gesamte “kopernikanische Wende” von Nikolaus K. bis inklusive Isaac Newton ist Beispiel eines lang andauernden,”voraufklärerischen naturwissenschaftlichen Projekts sozusagen Gesamteuropas”.
Dessen Träger sind weder Fürsten noch Akteure einer universalistischen Kirche, sondern (echte) “Fachleute” deutsch-polnischer, dänischer, deutsch-österreichischer, niederländischer, italienischer und englischer Herkunft, wenn man so will
- auf der unverzichtbaren sprachlichen Basis einer allen Beteiligten geläufigen lingua franca.
Womit wir wieder beim Alten Rom angelangt wären, ohne das es keine europäische lingua franca Latein gegeben hätte.
Das Lateinische ist “im Rückblick” nun wirklich ein nicht weg zu diskutierender “nennenswerter Beitrag” des Alten Rom (gilt selbstverständlich auch für die mittelalterliche Kirche).
Über alles Weitere kann man diskutieren (und Engels weiß das wie kaum jemand anderes).
Das beginnt beim Charakter der römischen Herrschaft (bereits zu republikanischen Zeiten), die man als ebeno gewaltsame wie gekonnte Aneignung nichtrömischer (Energie-)Ressourçen sehen kann.
Die Basis der Reichsbildung ist übrigens bereits in republikanischer Zeit gelegt worden
- ob das nun die Eingemeindung der “Kornkammern” Sizilien und Nordafrika oder des Silbers Hispania citeriors betrifft (Folgen des Siegs über Karthago).
Ähnliches ging – auch bereits vor der Kaiserzeit – mit den griechischen Stadtstaaten und Kolonien sowie größeren hellenistischen Herrschaftsverbänden vonstatten (Seleukidenreich).
Diese Entitäten konnten idR zwar kaum Getreide, Silber oder Holz liefern,
dafür aber jede Menge Lebensart & Legitimität (vlt. auch Wein und Öl).
Von Generälen und Kaisern
Bewerkstelligt wurde das von den römischen Legionen, die von meist kompetenten Generälen befehligt wurden,
von denen die zivile politische Elite Roms – vulgo “Senat”- zunehmend abhängig wurde.
Cäsar, Mark Anton und Octavian/Augustus waren nur späte Beispiele für solche Generäle, wobei der Letztere das Staatswesen faktisch in ein Kaiserreich übergeführt hat
(was freilich über Jahrhunderte nicht zugegeben wurde – “Prinzipat”. Man könnte dieses “Narrativ vom ersten Bürger der Republik” jedenfalls als eine der langlebigsten fake news der Weltgeschichte bezeichnen).
Ungeachtet der konservativen Neigungen des ersten Caesar Augustus hat dieser – wohl unbeabsichtigt – (fast) alles grundgelegt, wofür spätere Kaiser bis heute als abschreckende Beispiele genannt werden
- und was zeitgenössischen Konservativen ein Gräuel ist (sein soll):
- die weitgehende diktatorische Willkür eines Alleinherrschers, etwa Neros,
- ein Herrschaftsmodell, das auf der Säule soldatischer Macht und jener der – tlw. staatlich alimentierten – “urbanen plebs” beruhte. Augustus hat die zivile “cura annonae” natürlich nicht erfunden, aber auf machttechnisch produktivere Beine gestellt.
- Im imperialen Rom entfaltete sich lange nach Augustus ein sozusagen unrömischer Kosmopolitismus, der sich in einem religiösen Synkretismus ebenso zeigte wie später in der Präponderanz ethnisch germanischer Heerführer, die manchmal zu de facto Regenten aufstiegen.
- Auch lässt sich die “Inflation” bis in die römische Kaiserzeit zurück verfolgen, die durch ständige Münzverschlechterung bzw. “Verwässerung” der Silber-Sesterze (bzw. des Denarius) zustande kam.
- Wie von Figuren wie Elagabal gezeigt, gab es selbst in höchsten Kreisen antike Versionen von Transgenderismus/gender fluidity – klassisches Beispiel für die oft bemühte “(spät)römische Dekadenz” und ein rotes Tuch für heutige Konservative und anderweitige “heteronormative Traditionalisten”.
All das wird man Engels kaum erzählen müssen und ein Spengler-Adept wie er wird derlei wohl vor dem Hintergrund der Verfallsjahre einer Zivilisation interpretieren.
Ungeachtet dessen pocht der Mann auf eine antike Einfärbung des “wahren Europa”, für das er den Kunst-Begriff “Hesperialismus” geschaffen hat.
H. stammt aus der griechischen Mythologie und bezeichnet einen mythischen Ort im Atlantik, wo die Nymphen des Westens wohnen. Engels und dessen Seelenverwandte benutzen den Begriff, um ihren Europäismus vom in Brüssel und den Landeshauptstädten dominanten universalistischen, “fleischlosen” (“désincarné”) Europa-Begriff zu unterscheiden.
Selbstredend gehört Russland nicht zum hesperialistischen Europa Engelsscher Prägung.
Russland sei eine eigene Welt, eine eigene Zivilisation, mit der es zwar Überlappungen und gemeinsame Interessen gebe, die aber nicht in den gleichen polititischen Verband wie das hesperialistische Europa gehöre
(es sei freilich dumm, sich Russland zum Feind zu machen und in die Arme Chinas zu treiben)
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Hier soll einmal ein Schlusspunkt gesetzt werden, vorläufig.
Es sei freilich der Hinweis gestattet, dass die historisch-kulturelle Zugehörigkeit nicht alles ist und dass es einen gewaltigen Unterschied macht,
- ob 40 oder 500 Millionen Menschen ernährt, gewärmt und untergebracht werden müssen,
- letztlich über ein- und dieselbe Bodenfläche, die noch dazu 2000 Jahre zusätzliche (Ab)Nutzung aufzuweisen hat.
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