Die Hyperinflation der Weimarer Republik und die aus dieser zu ziehenden Lehren für EZB (ESZB) bzw. teilnehmende nationale Zentralbanken ist ein Thema, das nie langweilig zu werden scheint. Ein Exponent Frankfurter – anscheinend Bundesbank-naher – Ökonomen hat die Bilanz der Reichsbank nach dem ersten Weltkrieg in Augenschein genommen und erklärt die komplette Zerstörung der Papiermark binnen eineinhalb Jahren mit der “de facto-Insolvenz” der damaligen Zentralbank, die nach der militärischen Niederlage Deutschlands 1918 über kaum noch werthaltige Aktiva verfügte, was als böses Omen für die EZB (das ESZB) gesehen wird, die (das) in großem Stil Staatsanleihen von europäischen Krisenländern ankauft. Das – fünf Jahre nach einer ähnlichen Dissertation – publizierte 360 Seiten lange Papier des Professors ist hier downzuloaden, eine auf YT abrufbare, mehr als zweistündige Präsentation Dr. Sauers ist folgend eingebunden.
Das paper analysiert auch die Fälle zweier anderer Verlierer-Staaten des Ersten Weltkriegs (Österreich, Ungarn) sowie Polens. Der Schwerpunkt liegt jedoch zweifellos auf Deutschland, auf dem Kaiserreich und der diesem folgenden Weimarer Republik
- was wohl aus auf der Hand liegenden Gründen erfolgt.
Sauer hat sich die bisher “dunkle” Asset-Seite der RB-Bilanz angesehen und erklärt anhand einer Grafik (s. S. 137, Figure 18, ab etwa 24:35 im YT),
dass zum Zeitpunkt der “Stabilisierung” im November 1923, die völlig wertlos gewordenen Staatsanleihen des verflossenen Kaiserreichs um die 90 Prozent der Aktiva der Bank ausgemacht hätten – Gold habe es nach einem zweimaligen “Aderlass” keines mehr gegeben.
Damit sei die deutsche Zentralbank “verletzlich geworden”, faktisch pleite gegangen und jedenfalls nicht mehr imstande gewesen, den RM-Kurs auf den FX-Märkten zu verteidigen.
Die ab Mitte ’22 galoppierenden Währungsverluste gegenüber dem Dollar hätten die deutschen Produzenten zu höheren Preisforderungen auf dem Inlandsmarkt gewissermaßen inspiriert,
was dazu geführt habe, dass die Währungsverluste im FX-Markt ins deutsche Inland übergeschwappt seien.
Die “eskalierende” im Umlauf befindliche Geldmenge, die den Ökonomen bisher als “Hauptbösewicht” galt, sei nicht Verursacherin der Hyperinflation, mit dem eher schwachen Argument, dass
auch nach der Stabilisierung der RM die Geldmenge gestiegen sei, ohne dass sich die Preise erhöht hätten (nämlich um etwa Dreifache gewachsen, wohingegen sich die Geldmenge 1922/23 milliardenfach erhöht hat!).
Es mag dieser Perspektive einiges abzugewinnen sein und mit der in diesem Zusammenhang nach wie vor dominanten Quantitätstheorie des Geldes wurde zweifellos viel Schindluder getrieben,
zum Beispiel, indem getan wurde, als sei die explosive Vermehrung der Zahlungsmittel durch die RB “die ganze Geschichte” (dieser Blogger pocht nichtsdestotrotz d’rauf, dass im Betrachtungsfall die schiere “frisch gedruckte” Menge an “notes in circulation” einen wesentlichen Teil der Geschichte darstellt).
Auch ist die gegenwartsbezogene Kritik Dr. Sauers an der Verschlechterung der Assets in der Eurozone verdienstvoll,
ebenso wie jene an der aktuellen “verdeckten monetären Finanzierung” einzelner Euro-Staaten durch das ESZB (keine Staatsfinanzierung mittels direktem Kredit, sondern indirekt über eine Kaufgarantie für Kommerzbanken).
Die Frage ist nur, ob die EZB (bzw. “das System”) aktuell z.B. mit dem Erwerb von US treasury bills/notes/bonds, privaten commercial bonds oder gar Aktien besser dran wäre
und historisch,
warum es in D. dann eigentlich vier Jahre bis zum Einsetzen der Hyperinflation und volle fünf bis zu deren Beendigung gebraucht hat
(die von Sauer vorgebrachten “Goldgeschichten” zum Winter 1918/19 und der versuchten Wechselkursstabilisierung anfangs 2023 sind wenig überzeugend, abgesehen davon, dass der Anteil von Gold in der RB-Bilanz nie wirklich spezifiziert wird).
Dass die RB den Krieg durch den Ankauf von Regierungsanleihen mit finanziert hat und im November 1918 auf einer Menge von wertlos gewordenen Zahlungsversprechen gesessen ist, muss “dem Publikum” zeitnah bewusst gewesen sein, ebenso wie der Umstand, dass
- die dem Kaiserreich nachfolgende Weimarer Republik 50 Mrd. Goldmark an Reparationen zahlen musste, und zwar
- schon mit den Friedensverträgen Mitte 1919, zumindest aber seit Mai 1921 (“Londoner payment schedule”), allerspätestens jedoch
- im Jänner 1923 mit dem französisch-belgischen Einmarsch ins Ruhrgebiet. F und B zeigten damit, dass sie in Ermangelung von Gold zwar auch Sachwerte akzeptierten, dass sie aber auf eine unverzügliche Begleichung der in Versailles diktierten deutschen Schulden bestanden.
An diesem Punkt setzt das Verständnis dieses Bloggers für die deutsche Hyperinflation vor 100 Jahren ein.
- Wahrscheinlich haben, erstens, die ausländischen Kreditoren wirklich bis zuletzt gehofft, “dass auch in Sachen Reparationen nicht alles so heiß gegessen wie gekocht wird” – wobei sie in diesem Glauben von den deutschen Exporterfolgen der Jahre 1920 und 1921 bestärkt wurden
- und zweitens scheint sich das inländische Preisniveau auch – aber nicht nur – durch das massive Wachstum neuer Zahlungsmittel vulgo “Gelddrucken” explosiv erhöht zu haben (um etwa 7 Milliarden mal vom Juli 1922 bis Ende November 1923). Parallel dazu ist – was meist vergessen wird – die deutsche Industrieproduktion eingebrochen, um 40 – 45 Prozent bei Kohle, Roheisen und Stahl.
Zum Beleg dafür eine Tabelle, die auf Frank D. Grahams “Exchange, Prices and Production in Hyper-Inflation Germany 1920 – 1923 (1967)” beruht, S. 293.
Die Werte sind alle rein quantitativ (also “nicht inflationär verzerrt”) und einem Dokument der League of Nations entnommen. Die Braunkohle ist entsprechend ihrem Heizwert in Steinkohle(näquivalente) umgerechnet worden.
Jahr | Steinkohle | δ | Roheisen, Ferrolegierungen |
Stahl |
1909-13 Ø | 138 | 9 | 12 | |
2022 | 160 | 9 | 11 | |
2023 | 88 | -45% | 5 | 6 |
Das impliziert natürlich auch massive Rückgänge in den nachgelagerten Industriezweigen.
Am schlimmsten ist aber wohl der abrupte Rückgang der Kohleförderung, die nach diesen Angaben 1920 in Westeuropa etwa 80 Prozent der konsumierten Primärenergie ausmacht (Table 8). Da anzunehmen ist, dass das restliche Fünftel “Biomasse” (Holz, Nahrung, Futter) etwa konstant blieb (Graham, S. 285),
bedeutete das für Deutschland 1923 einen Primärenergieverlust von 36 Prozent binnen eines Jahres.
Zum Vergleich: Das Corona-Jahr 2020 hat einen Rückgang der konsumierten Primärenergie um nur 3,6 Prozent weltweit und 6,7 bzw. 7,3 Prozent in “Total Europe” und Nordamerika respektive erbracht (Statistical Review of World Energy 2023, p.8; Angaben in Exajoules).
Das ist Welten von der Weimarer Republik entfernt.
Deswegen und wegen der 2020 vergleichsweise immer noch moderaten Geldmengenerhöhung z.B. von M2 im Euroraum ist das vor vier Jahren vorhergesagte “globale Weimar 2020″ ausgeblieben.
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