Europa, nein: der “europäische Wohlfahrtsstaat” hat ein demographisches Problem. Die EU bräuchte jedes Jahr 36 Mio. außereuropäische Immigranten um das heutige Verhältnis von “Alten” und “Jüngeren” zu erhalten - rein theoretisch. Es hieße nämlich auch, dass sich die Bevölkerung verdreifachen würde. Das ist illusorisch – selbst wenn man nicht politisch oder kulturell agrumentiert. NB zum Begriff “Wohlfahrtsstaat”.
Disclaimer: Meine Lebensgefährtin und ich haben keine Nachkommen, sind also am unten skizzierten Problem mit schuldig. Ich nehme für mich trotzdem in Anspruch, heute, in fortgeschrittenem Alter, die Sachlage anders als in meinen ersten 45 Lebensjahren zu sehen. Und ich nehme mir heraus, über das Thema zu schreiben.
Den Anstoß gab eine Diskussion mit einer gut gesinnten Dame, die sich ihrerseits über die Aufregung über die Massenimmigration von Nicht-Europäern echauffierte und sinngemäß meinte, Europa brauche schon aus demographischen Gründen frisches Blut.
Ich habe mir daraufhin die 2013 erschienene Studie “International Migration and the Future of Populations and Labour Force Resources in Europe” angesehen.
Sie ist das Gemeinschaftswerk eines halben Dutzend Wissenschafters, zum größten Teil wohl Demographen. Herausgeber ist Marek Kupiszewski.
Im Zentrum des Buchs stehen Simulationen für das Jahr 2052. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist unverkennbar die Politikberatung: Welche Entscheidungen müssen in der Gegenwart getroffen werden, um die für 2052 “vorhergesagte” Situation besser zu bewältigen?
Um es vorab festzuhalten: eine silver bullet wird nicht serviert. Das Problem (mit oder ohne Anführungszeichen) ist zu groß für eine Silberkugel. Selbst die ideal angenommene Einwanderung (Immigranten ersetzen ohne Übergangsprobleme ausscheidende Arbeitskräfte) stellt keine Lösung dar.
Given the implausible magnitude of immigration required to sustain the ODR, ODRE or LMDR (Maßzahlen für das Verhältnis von Alten/ökonomisch Inaktiven zu Jungen/ökonomisch Aktiven, Anm.), as well as the artificial age structures obtained eventually in all three replacement scenarios, it seems obvious that the policy solutions for the problems related to ageing need to be sought elsewhere.”
Was sind nun die Hauptresultate?
Im Basisszenario, das auf dem Immigrationsniveau von 2002 beruht, bleibt die Gesamtbevölkerung ungefähr konstant. Sie wird aber deutlich älter als die heutige sein, die noch einen statistischen Bauch im mittleren Alter aufweist.
Die ökonomisch aktive Bevölkerung wird 2052 jedoch um 10 Prozent geringer sein, was u.a. bedeutet, dass die sogenannte ODR (“old age dependency ratio”) von 23,9 Prozent auf 54,9 Prozent gestiegen sein wird.
Die Last, die Verdienern aufgebürdet wird, wird sich bis dahin so massiv erhöhen, dass ein Erwerbstätiger mehr als einen Nicht-Erwerbstätigen erhalten wird müssen (Kinder bereits ausgenommen). Ironischerweise ist das etwas, das Informierte bedenklich finden – nicht jedoch, angebliche Füchtlinge aufzunehmen, die die Erwerbstätigen-Quote in absehbarer Zukunft drücken werden.
Dem Thema Ausbildung der Einwandernden widmet sich u.a. dieser Herr:
1,4 Mrd. Europäer, die keine sind
Sodann wird ausgerechnet, welche nicht-europäische Einwanderung die EU bräuchte, um die heutigen ( = 2002) Verhältniszahlen zwischen Jungen und Alten bis 2052 präservieren zu können.
Ergebnis: 36 Millionen pro Jahr, genauer: im Jahr 2052 – in den Jahren davor jeweils ein bisschen weniger. Das ist insofern keine müßige Rechenübung, weil von diesen Maßzahlen die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme abhängt.
So ein Szenario würde beinahe zu einer Verdreifachung der Wohnbevölkerung auf 1,4 Milliarden führen und bedeuten, dass knapp drei Viertel der Europäer des Jahres 2052 entweder selbst Immigranten (post 2002) oder deren Nachkommen sind.
So etwas, sagen die Autoren, sei politisch nicht machbar und auch gar nicht anzustreben. Sie befürworten einen policy mix, der automatisch Gähnreiz auslöst, weil die Themen seit Jahrzehnten wiederholt werden: Späterer Pensionsantritt, Erwerbstätigkeit steigern, mehr staatliche Kinderaufbewahrungsanstalten für berufstätige Mütter, selektive Einwanderung von Qualifizierten, etc.
Die Fruchtbarkeits-/Fortpflanzungsrate, werde aber auch mit mehr Kinderkrippen und Familienvereinarkeitsprogrammen nicht mehr nennenswert gesteigert werden, sind Kupiszewski & Co. überzeugt.
Kurz: Das Problem kann höchstens gelindert (“mitigated”) werden – aber nicht “gelöst”.
Einwürfe aus dem Seitenout
Studien, die die Entwicklung der vergangenen 50 Jahre auf die nächsten 50 Jahre hochrechnen, sind freilich selbst in Problem.
Die Voraussetzungen können sich fundamental ändern, verschlechtern..
Natürlich könnte auch freie Energie entdeckt und nutzbar gemacht werden – oder eine andere Produktivitätsrevolution stattfinden.
Wahrscheinlich ist das nicht unbedingt.Das Wirtschaftswachstum kehrt unter den gegebenen Rahmenbedingungen – ausstehende Kredite, Nettoenergie – jedenfalls nicht zurück (nicht wenige sagen, dass das auch gut so ist).
Wahrscheinlicher ist, dass die Parameter der vergangenen 50 Jahre eher zu günstig sind und dass daher das implizit vorhergesagte Ende des europäischen Wohlfahrtsstaats sehr wohl eintreffen wird.
Der zynische Kobold, der in meinem Innenohr wohnt, flüstert mir an dieser Stelle zu: Solche Probleme gabs in der guten alten Zeit nicht, weil es keine sozialen Sicherheitssysteme gab, die zusammenbrechen konnten. Und wenn damals die Tragfähigkeit Gaias überschritten wurde, wurde halt in großem Maßstab gestorben, z.B. durch Krieg, Hunger oder Krankheiten.
Diese Art von Problemlösungen will Europa wirklich nicht mehr haben. Soziale Sicherheit und Daseinsvorssorge nach heutigem Schnittmuster wird es aber auch nicht zurück haben können.
Doch vielleicht kann es mit Anstand schrumpfen. Seine ressourcenmäßige und energetische Lebensbasis ist ohnedies nicht allzu breit.
Literatur: Marek Kupiszewski (Hg.), International Migration and the Future of Populations and Labour Force Resources in Europe. 2013
Grafik: Wikimedia Commons
PS: Die Studienautoren schlagen u.a. vor, die individuelle Altersvorsorge durch mehr Sparleistung zu erhöhen. Hahaha. Teilt das einmal der EZB (und den “keynesianischen” Politicos) mit!
Nachbemerkung, 22.11., 09.00 Uhr: Ersuche, den Begriff Wohlfahrtsstaat generisch aufzufassen. Im Wesentlichen ist ein Zustand gemeint, in dem Produktive durch überbordende Steuer-/Abgabenleistung oder Regulierung das Interesse an der Entfaltung ihrer Produktivkräfte verlieren.
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