Der langjährige Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer hat ein Buch geschrieben, das in Zeiten des grassierenden Corona-Wahnsinns wie ein eingefrorener Posthornton klingt, das aber klar wie kaum ein zweites ein zentrales Problem der europäischen Staaten zeigt: die “adverse Selektion” in sg. demokratischen Eliten, über die inkompetente Bonzen zuerst in 1A-Ämter gespült und danach in Systemerhalter-Pöstchen dauergelagert werden.
Das gerade erschienene “China am Ziel, Europa am Ende?” thematisiert das Lebens-Mem des Christoph Leitl, dem hier keineswegs vorgehalten werden kann, dass er nun “im (nicht wirklichen) Ruhestand” anders redet als im Amt.
Es ist auch nicht so, dass wesentliche Befunde Leitls grundfalsch wären.
Ein außen stehender Beobachter könnte aufgrund des Buchs aber leicht den Eindruck gewinnen, dass
- der von Macht & Einfluss ausgeschlossene sprichwörtliche siebte Zwerg von links einen Trauergesang über Entwicklungen anstimmt, gegen die er beim besten Willen nichts zu unternehmen vermochte bzw. dass sich
- hier jemand zu Wort meldet, der auf die dürftigen und voreingenommenen Informationsmöglichkeiten von Lügen- und Lückenpresse angewiesen war & ist und der daher wesentliche Teile der Story geradezu übersehen muss.
Beides ist nicht der Fall, bei weitem nicht, denn
- der Tartuffe aus Eferding war von 2000 bis 2018 Präsident der Österreichischen Wirtschaftskammer und als solcher einer der mächtigsten Männer der (östlichen) Alpenrepublik (sowie ein ziemlich einflusssreicher innerhalb der Europäischen Union)
- und er verfügt(e) qua Amt über Apparate, Kontakte und informationelle Zugänge, von denen z.B. typische Journos nur träumen können.
All das ist in Rechnung zu stellen bevor man sich dieser Jeremiade über die Reformunfähigkeit des Abendlandes nähert.
Man muss die scheinbar so divergenten Eigenarten des “Systempolitikers” sowie des “verbalradikalen Systemkritikers” als zwei Seiten ein- und derselben Medaille lesen.
Als oberster Sozialpartner der Unternehmerseite konnte L. nur deswegen mithelfen die Wirtschaft mit Regulativen zu überziehen, weil er gleichzeitig gegen Bürokratisierung & lähmende Verfahrensdauern wetterte.
Und als Top-Interessensvertreter produktiver & (meist) Steuern & Abgaben zahlender Firmen konnte er auch deshalb Glaubwürdigkeit gewinnen, weil er gleichzeitig dafür eintrat, insolvente Euro-Staaten u.a. mit Steuermitteln der eigentlich ihm anvertrauten Klientel herauszuhauen.
Etcetera, etcetera.
Das “neue Buch” ist eigentlich eines, das der Autor bereits vor fünf Jahren hätte veröffentlichen können und das in der heutigen, mit Corona verkappten beginnenden Ressourcenkrise seltsam deplaciert wirkt (das vom Autor mythologisierte Reich der Mitte ist von dem bust mindestens ebenso schwer betroffen wie Europa).
Der Text besteht aus zwei Teilen
- einem zehn Unterkapitel umfassenden Abschnitt über die bekannten Bruchlinien der hiesigen Gesellschaften und
- einem zweiten, das schlagzeilenartig zwölf “Rezepte” für den Kampf gegen den Niedergang anführt (zu dem der Autor selbst einiges beigetragen hat).
China, Kammer & Dogooders
Wer an den seichten Allgemeinplätzen interessiert ist, soll das Pamphlet selbst lesen – es hat nur gut 100 Seiten und kostet lediglich 16 Euro.
Hier sollen schlaglichtartig nur ein paar Aspekte angerissen werden:
- Herr Leitl, der in seinem ersten Teil einen (“europäischen”) Identitätsbruch als Teil der Malaise anführt, war in & nach den 1990ern ein wesentlicher Player bei einem anderen “kleineren” Identitätsbruch, der hier ausführlicher geschildert wird – nämlich beim Staatsstreich à la Salamischeibe, anscheinend einem Gemeinschaftsprojekt der paneuropäistischen Entscheidungseliten; und zwar in Leitls Zeit als Wirtschaftslandesrat, WKÖ-Präsident und womöglich bereits als Abgeordneter zum oberösterreichischen Landtag.
- Das Motiv der bis heute nicht-öffentlichen “Diversionsarbeit” gegen den Geist der kleinösterreichischen Verfassung dürfte nach Leitls eigener Darstellung in einem “überzeugten Europäertum” zu suchen sein – das freilich wenigstens fragwürdig ist. Solches Europäertum ist eines, das für den “linksliberal-rechten” Teil der 68er typisch ist, das aber nur wenig mit der konkreten historischen, kulturellen und szientifischen Substanz der europäischen Gesellschaften zu tun hat – aber alles mit einer “Integration in den Farben der Herrschaft aufgelärter Bürokratien” in Brüssel und in den Landeshauptstädten. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch L.s Eintreten für den Euro zu sehen – “koste es andere, was es wolle”; einer Gemeinschaftswährung, die tatsächlich eine wenig lebensfähige “Missgeburt” ist.
- Dabei wurde über die Zeit ein “Narrativ-Klumpen zusammengeschwemmt”, in den alles einbezogen wurde, was in irgendeiner Form als modern, ideologiekonform und sozialpartnerschaftlich verträglich gelten kann, von der CO2-Wachelei bis zum Immigrations-Fandom. Gemeinsamer Nenner ist bis heute, dass diese tollen Projekte a) entweder nichts kosten, und b) wenn doch, dass die Aufwändungen nicht öffentlich werden oder dass diese letztlich c) geräuschlos auf Gruppen verschoben werden, die keine Lobby haben (oft mit Ausnahme div. “Populisten”).
- Überhaupt ist in diesem Horizont “Populismus” die skrupellose Anrufung sozusagen nicht legitimer Gruppeninteressen zwecks Beförderung der eigenen politischen Karriere. Kein Populismus ist dagegen das Verschieben von Kosten mithilfe von “monetären Behörden” und fractional reserve banking, asymmetrischer Energieverzicht der eigenen Leute zu angeblichem Nutz und Frommen des Weltklimas oder eine Politik der offenen Tür für “Wirtschaftsflüchtlinge” aus der ganzen Welt, zu Lasten künftiger Generationen (“Hiesiger”). Das alles gilt als “politisch & moralisch gut”.
- Dem oberflächlichen Anschein zum Trotz muss zum Schluss festgestellt werden, dass der Autor dem “chinesischen Modell des Kapitalismus” eine beträchtliche, wenn auch nur klammheimliche Sympathie entgegenbringt. Staatskapitalismus, lautet sein Subtext, ist schneller, effizienter und daher überlegen – was sich an der enormen Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung der Volksrepublik ablesen ließe. Dass derlei zu einem guten Teil auf eine nicht aufrechterhaltbare Kreditbläserei auch des chinesischen Systems zurück geht, scheint dem Autor verborgen zu bleiben. Das ist freilich kein Wunder, weil eine Variante des selben Rezepts hierzulande hoch offizielle Wirtschaftsideologie ist (“Jetzt sind wir alle Keynesianer”).
“Disclosure”: Dieser Blogger war “in einem früheren Leben” ein kritikloser Apportel-Journo in subalterner Stellung – auch des Herrn L.
Er will das nicht unter den Teppich kehren und ist bereit sich reumütig auf die Brust zu schlagen, auch öffentlich – glaubt aber, dass das keine Sau interessiert. Die Vita des besprochenen Autors schon eher.
Bild: Österreichisches Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres / CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0) via Wikimedia Commons
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