Neureaktionäre Demokratiekritik und die Konsequenzen der Politik

Die neue Strömung der Neo-Reaktionäre versucht den Konservativismus und Traditionalismus vom Ruch der Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit zu befreien. Sie rennt dabei gegen das wahrscheinlich stärkste politische Tabu der Gegenwart an. Der Mythos wird aber erst zu Ende sein, wenn/nachdem die Demokratie spektakulär und vor den Augen aller gescheitert ist.

coverVor kurzem erschien ein Büchlein, das sich “A Critique of Democracy: A Guide for Neoreactionaries” nennt. Vier Fünftel des Texts sind eine Materialsammlung bekannter Unzulänglichkeiten der Demokratie.

Die Beweisführung von Michael Anissimov gleicht über weite Strecken einem Argumentarium wie es an wahlkämpfende Parteiochsen verteilt wird, einem politischen Stichwortzettel. Irgendwie ist vieles déjà vu und viele der ausgegebenen bullet points können selbst von jenen akzeptiert werden, die mit Churchill der Meinung sind, dass es sich bei der Demokratie noch um das kleinste Übel handle.

Aber auch wenn das vorgebrachte Ideengut schnell wiedererkannt wird, sollte es nicht sofort als bare Münze entgegengenommen werden. Manches wird einfach heruntergeratscht. Anderes hat experimentellen oder provokatorischen Charakter. Wieder anderes changiert in die Ironie, beispielsweise die Phrase dunkle Aufklärung, übrigens auch die kokette Wortschöpfung neoreaktionär.

Im Großen und Ganzen ist trotzdem klar, worum es gehen soll – nämlich um Werte, um Traditionalismus und Konservativismus, diesmal aber ohne genuinen, “szientifischen Antimodernismus”. Es ist eine Mischung aus einander überlappenden, manchmal widersprüchlichen libertären und monarchistischen Ideen, ein Cuvée aus Ludwig von Mises und Julius Evola, ein Gebräu aus Praxeologie und Evolutionspsychologie. Und, um eine zentrale Ingredienz nicht zu übersehen: das gute alte transhumanistische Reisegepäck ist auch dabei. Anissimov hat es aus einem früheren Leben mitgebracht, aus einer Zeit, in der er noch nicht reaktionär war.

Im Zentrum seiner Kritik steht jedenfalls die nur schwer bestreitbare Dysfunktion der demokratischen Staatsform bei der Lösung langfristiger Probleme.

Die Austrians haben für das wirtschaftliche Handeln der Menschen den Begriff der Zeitpräferenz geprägt (übernommen). Hans Hoppe nimmt diesen wieder als Ausgangspunkt für seine Überlegung, dass die Monarchie der Demokratie überlegen sei, solange die (für ihn) beste Lösung, die Zivilrechtsgesellschaft, nicht durchsetzbar ist. Ein König, meint er, geht mit jeder Art von Ressourcen einfach sorgsamer um – schon aus dynastischem Eigeninteresse (Hoppe lässt letztlich offen, ob es ohne einen Staat/Gewaltmonopolisten überhaupt geht – die Neureaktionäre sagen klipp und klar: Es geht nicht).

Seltsame Bettgenossen

Paradoxerweise befindet sich der ansonsten verfemte Hoppe mit seiner Demokratiekritik in bester schlechter Gesellschaft; nämlich in der zahlreicher Klimawissenschaftler und Medienleute, die der Ansicht sind, dass demokratische Politiker konstitutionell nicht in der Lage sind, Klima & Welt zu retten.

Diese Leute bringen nicht die Ehrlichkeit auf, offen gegen das populärste politische Konzept der Gegenwart aufzutreten. Was sie wollen, ist trotzdem unmissverständlich: eine nicht-demokratische Weltregierung, die das Teufelszeug Kohlendioxid verteilt, natürlich gerecht. Siehe zum Beispiel hier.

Den Klimaideologen wäre es urpeinlich, wären in ihrem global governance-Projekt Anklänge an autoritäre Vorbilder erkennbar. Würde sich gar nicht gut machen. In der Sache reden sie aber nicht um den heißen Brei herum. Auch sie halten die Zeitpräferenz der Demokratie für verderblich hoch. Sie wollen das CO2-Verteilungsproblem allerdings nicht über den Markt, sondern mit der planerischen Weisheit guter Experten lösen, einem Herrscherkollektiv auf globaler Ebene. Polemiker sagen Weltsozialismus zu so etwas.

Die Neoreaktionäre haben die Skrupel der Klimatologen nicht und nennen ihr Kind beim Namen.

Man hätte gehofft, dass der belesene, wissenschaftsaffine Anissimov ein Wort über die Klima-Sache verlieren würde – aber nein, das gehört nicht zur Agenda. Der Mann spaziert lieber pfeifend durch die Universalgeschichte und ergeht sich in Betrachtungen über das Wesen des Menschen und die beschränkte Fähigkeit des Normalbürgers, rationale politische Entscheidungen zu treffen. Alles sehr interessant, aber zu langatmig um es hier nachzuerzählen.

Spannend wird’s in der Critique erst wieder gegen Schluss, wo man fünf mögliche nicht-demokratische Alternativen auftischt, die zum Teil gleich wieder verworfen werden. Der Faschismus ist in dieser short list zwar vertreten, ist für gute Reaktionäre aber nicht akzeptabel. Der Faschismus ist ein Sozialismus, der den totalen Staat will und der ständig um die Gunst der Beherrschten buhlt, wenigstens eines Teils von diesen. Das ist für die Zielgruppe nicht attraktiv.

Der Verfasser erklärt nicht ausdrücklich, bei welcher Variante seine Sympathien/Präferenzen liegen und sein Wunsch, aus der sowieso kleinen Interessentenschar nicht noch welche vor den Kopf zu stoßen, ist offenkundig.

Es geht Anissimov aber sowieso nicht um ein universell gültiges Modell. Die Schweiz, meint er, soll ruhig die direkte Demokratie behalten solange die Eidgenossen dies wollen, ebenso wie Singapur das Modell Lee Kwan Yus, mit dem es in den vergangenen 30 Jahren gut gefahren ist. Mehr als dem modernen Konzept ähnelt Anissimovs Begriff manchmal der “Kritik” wie in Kritik der reinen Urteilskraft – was nicht viel mehr als Ausloten der Grenzen bedeutet.

Der Autor kann oder will nicht ins Detail gehen, wie absolut sein Monarch und wie aristokratisch-republikanisch sein Staatswesen sein soll. Aber es wird wenigstens in Umrissen klar, wie das Modell aussehen würde:

anissimov_quote“Statt 35 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Regierung aufzuwenden und sich wie viele Demokratien tief ins deficit spending zu begeben, könnte eine Monarchie damit beginnen, die Regierung zu halbieren, das staatliche Gesundheitswesen zu eliminieren und die staatliche Schulbildung zurückzuschrauben.”

Anders als bei den meisten Österreichern würden in Anissimovs reaktionärem Staat allerdings weder corporatocracy noch sexualmoralische Beliebigkeit zugelassen. Es würde kein Freihandel um jeden Preis angestrebt und auch keine Politik der offenen Tür in Sachen Einwanderung gefahren. Bevölkerungspolitik und gezielte Geburtensteigerung wären wieder in. Das sind eine ganze Menge von Leimruten.

Was die Frage der politischen Legitimation/Legitimität angeht, herrscht dagegen Funkstille. Verräterisches Schweigen zum zweiten Mal.

Neureaktionäre mit mechatronischem Menschenbild haben – anders als ihre paläokonservativen Kollegen – ein distanziertes Verhältnis zu Religion. Gottesgnadentum o.ä. kommt für sie nicht in die Tüte.

Dass der von dieser Seite behauptete langfristige allgemeine Nutzen als Legitimation einfach so ausreicht, darf freilich bezweifelt werden. Aber vielleicht glaubt man ja, dass ein gutes PR-Konzept das Problem löst. Oder man hat noch keine Lösung gefunden.

Eins wird jedenfalls überdeutlich: die Begründung einer neuen Staatsform ist unvergleichlich schwieriger als die Kritik an einer alten.

***

An dieser Stelle drängt sich gebieterisch eine Zwischenfrage progressiver Zeitgenossen – oder gar aus der ideologischen Normalbevölkerung – auf. Sie lautet:

Warum ? Wieso gibst du dich mit solchen Kopfgeburten überhaupt ab? Für 99,9 Prozent der Menschen gibt es keine sinnvolle Alternative zur Demokratie und gar so schlecht ist deren Bilanz bisher auch wieder nicht. Gilt die westliche Demokratie heute nicht als Vorbild für die ganze Welt, hat sie den in ihr lebenden Völkern nicht bisher ungekannten Wohlstand beschert?”

Hmmm, nein, das mit dem Wohlstand ist eine Suggestivfrage, die nicht existente Kausalbeziehungen unterstellt.

Die angemessese Replik auf die obige Frage lautete aber anders, nämlich so oder ähnlich. “Es ist richtig, dass unsere Demokratien bisher einen Kollaps vermeiden konnten. Dass sie einem langsamen, aber vielfältigen Verfallsprozess unterliegen, ist aber schwer bestreitbar. Ihr Führungspersonal kann wesentliche Überlebensfragen unserer Ziviliation tatsächlich nicht beantworten.”

Ein Konsequenzialismus

Wie Menschen leben Regierungsformen von ihren Erfolgen und scheitern an ihren (echten und vermeintlichen) Misserfolgen. Politik wird von den Völkern letztlich anhand ihrer – mehr oder weniger unmittelbaren – Konsequenzen beurteilt.

Zum Beispiel die Nazis (Achtung, argumentum ad Hitlerum!). Heut’ werden die Nationalsozialistern von der (nicht speziell ins Visier genommenen) Allgemeinbevölkerung oft nur deswegen abgelehnt, weil sie den Krieg verloren und Land und Leute ins Unglück gestürzt haben. Dass die Nazis auch böse waren und Völkermord begangen haben, ist aus dieser Perspektive nur eine Art Zusatzargument.

Auch die Demokratie und ihr Führungspersonal werden letztlich nach den Konsequenzen der demokratischen Politik beurteilt. So viel eigene Urteilsfähigkeit in politicis hat der Normalbürger allemal.

Und hier sieht es z.B. für die westeuropäische politische Klasse und Verbündeten – Zentralbanker inklusive – gar nicht gut aus. Ein Streifzug durch die in diesem Blog erwähnten Fakten und Thesen zeigt, warum das so ist.

Die immer wieder aufgeschobenen Problemlösungen und die ständigen Fehlentscheidungen reichen von der Energie- und Außenpolitik über das Nichtreagieren auf Peak Oil, die Duldung und Förderung des verbreiteten selbstmörderischen Antinatalismus und die Schaffung nicht werthaltiger Scheinvermögen – bis hin zum heute schon absehbaren, letztlich notwendigen Wortbruch bei den Sozialversprechen.

Nicht zufällig läuft auch die seit 2008 verfolgte Zinspolitik der demokratischen Zentralbanken auf die Entwertung aller Ersparnisse des kleinen Mannes hinaus. Sie ist ein Ausdruck für  extreme Gegenwartspräferenz.

Unsere politische Klasse weiß das alles oder ahnt es zumindest. Die Dinge, die ihr dazu einfallen, sind zusätzliche polizeistaatliche Mittel und eine ausgeklügelte Taktik der Trippelschritte, deren Kalkül lautet: Lässt man die schlechten Nachrichten nur langsam genug einsickern, entsteht ein Gewöhnungseffekt. Außerdem gibt es immer die Chance, dass die Nachrichten nicht oder erst zu spät begriffen werden.

Ob das eine Erfolgsstrategie ist, weiß ich nicht. Es ist jedenfalls ein Motiv, sich Gedanken über Alternativen zu machen. Sollte es einen Anlass geben, ist es auf alle Fälle zu spät mit dem Sich-Gedanken-machen zu beginnen.

Literatur: Michael Anissimov, A Critique of Democracy: A Guide for Neoreactionaries, 2015

Unabhängiger Journalist

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