Professor Sinn und der Sinn der Europäischen Union von heute

schwarzer_juni_CoverDer Ex-Chef des IFO-Instituts ist einer von wenigen, der um die Mechanismen hinter dem Staatsbauprojekt EU weiß – und auch, dass Berlin dabei die Rolle jenes Schafs spielt, das zusammen mit zwei Füchsen demokratisch über das Abendessen abstimmt. Im jüngsten Buch beweist der Ökonom erneut außerordentlichen Scharfsinn. Weil er sich aber freut, wenn Herr Schäuble auf einer Tagung zu seinen Ehren erscheint, spricht er nicht aus, was die Deutschen tun müssten: Merkel und Gabriel aus dem Amt entfernen, die kontrollierten Medien abbestellen und die Lobbyisten gewisser Exportinteressen zum Teufel jagen.

Letzteres ist in einer Region, wo BMW und Audi ihren Sitz haben, womöglich schwieriger zu bewerkstelligen als Ersteres. ;-)      

Hans-Werner Sinns Schwarzer Juni widmet sich nicht etwa einer Terrororganisation, sondern dem Juni 2016, jenem Monat,

  • in dem die britischen Wahlbürger für den Austritt aus der Union stimmten und
  • als das deutsche Verfassungsgericht der EZB faktisch erlaubte, mit der Errichtung eines EU-Staats zu Lasten der deutschen “Sparer” fortzufahren.

Das Brexit-Referendum wurde breit publiziert, nicht aber die Folgen, die ein UK-Austritt auf die Stimmverhältnisse in einem entscheidenden EU-Gremium hat: Die Abschaffung einer bisher vorhandenen “Sperrminorität”, die eine (“patriotische”) deutsche Regierung dazu verleiten könnte ihr Veto dagegen einzulegen als Abendessen serviert zu werden.

Das hat alles mit den Regeln zu tun, wie sie in der EU derzeit gelten und wie sie z.B. 2008 von den untreuen Politicos und ihren medialen Helfern am Volk vorbei geschmuggelt worden sind.

Sinn erklärt die Aussichten nach dem Brexit in diesem YT-Video ab 07:51 folgendermaßen (Startzeit eingestellt):

Eigene Transkription:

Der Austritt Großbritanniens schwächt Deutschland, schwächt die anderen Freihandels-orientierten Länder schon aus rein mechanischen Gründen, denn im Ministerrat braucht man eine Sperrminorität von 35% der Bevölkerung, wenn man einen Beschluss verhindern will (…) Es war so, dass Großbritannien und die Länder des ehemaligen DM-Blocks (…) 35% hatten. Die mediterranen Länder (…) hatten genau 36% (…) Dieses Gleichgewicht ist jetzt zerstört. Indem Großbritannien austritt, haben die Freihändler nur noch ein Viertel der Stimmen (sic) und die mediterranen Länder liegen dann bei 42% und (…) können in Zukunft die Dinge so lenken, dass es ihnen passt (…)”

Sinn bedient sich einer alten Begrifflichkeit, indem er auf den Gegensatz von Freihändlern und Etatisten abhebt – aber er könnte genausogut Zahler- und Empfänger-Regionen sagen.

Es geht hier weniger um eine Ideologie des Wirtschaftens bzw. die Rolle des Staats in abstracto, sondern eher um eine konkrete Transferunion, in der die einen zahlen und die anderen kassieren.

Ich ergänze dazu: Wenn die Deutschen und ihre Co-Zahler das nicht wollen, haben sie keine andere Wahl als ihre “Eliten” auszuwechseln, idealerweise begleitet von (fairen) Gerichtsverfahren gegen die untreuen früheren Entscheidungsträger.

Das wäre ein radikaler Kurs, den Sinn zweifellos nicht unterstützt, der sich aber logisch aus seiner Analyse ergibt – sofern man nicht glaubt, dass eine Neugründung der EU im “freihändlerischen”, “wirtschaftsliberalen” Sinn durchsetzbar ist (da ist sie schon wieder, die alte Terminologie!).

Die Post Brexit-EU ist nämlich genau so, wie sie schon immer intendiert war, und wie die Merkels & Gabriels und Kerns & Mitterlehners sie heute gut finden!

Eine Transfergemeinschaft war wohl von Anfang der historische Sinn des Projekts – nur dass den Handelnden in den 1990ern klar war, dass sie das nicht offen und nicht auf einmal erreichen konnten

Langsamer Tod der Bundesbank-Deutschen

In Anlehnung an ein altes Bonmot über die NATO ließe sich formulieren: “Die EU ist dazu da, die (Obama-)USA drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.” (Dass sich mit der Wahl Trumps die politische Großwetterlage geändert hat, steht auf einem anderen Blatt).

Im anderen zentralen Steuerungsgremium dieses werdenden Übernational-Staats war die Verteilung der Stimmrechte übrigens von Anbeginn (1999) “antideutsch”.

Das kam umso stärker zum Tragen, je weniger die Zentralbanker “des ehemaligen DM-Blocks” die Finanzinteressen des Wirtschafts(Steuer-)-Gebiets geltend machten, aus dem sie stammen (was sie laut Satzung ohnedies nicht durften).

Bei genanntem Gremium handelt es sich um den – “jetzt rotierenden” - EZB-Rat, in dem bis vor kurzem one governor, one vote gegolten hat – wodurch der Gouverneur der maltesischen Nationalbank die gleiche Stimmmacht hatte wie jener der Bundesbank. Nach dem Euro-Beitritt Litauens wurden die Regeln “reformiert”, was aber nicht allzuviel verändert hat (wenn, dann zu Ungunsten der “Zahler”).

Die Waage hat sich über die Jahre auch hier zu Ungunsten “der Bundesbank-Deutschen” gesenkt (spätestens seit der Ersetzung Jürgen Starks durch Jörg Asmussen und Sabine Lautenschläger sind auch die realen Kräfteverhältnisse im EZB-Rat über jeden Zweifel erhaben).

Sinn auf die akademische Interviewer-Frage, ob sich der EZB-Rat bei seinen Entscheidungen nicht ein Wissen anmaße, das er laut Friedrich Hayek gar nicht haben könne (auch dieses Video startet an richtiger Stelle):

Ich glaube, das ist ganz einfach. Die wissen schon, dass sie das nicht wissen. Aber sie profitieren davon, das wissen sie auch. Über 60%, knapp zwei Drittel der Länder und Stimmen im EZB-Rat, betreffen Länder mit einer negativen Netto-Auslandsposition. Die sind also netto im Ausland verschuldet. Die machen eben eine Politik im eigenen Interesse, eine Nullzinspolitik (…), eine Kreditersatzpolitik (Target als öffentlicher Kredit, Anm.), die es ihnen erlaubt, sich den Kredit aus der Druckerpresse zu ziehen (…) All dieser Schmutz, der da gemacht wird bei der EZB (…), lässt sich leicht damit erklären – nicht mit der Anmaßung von Wissen, sondern mit dem Versuch, tatsächlich auch Vorteile für die Mehrheit der Länder und Stimmen im EZB-Rat zu erzeugen. Das kann man ihnen vielleicht noch nicht mal übel nehmen (…).”

Der Mann geht also davon aus, dass ein Teil der EZB-Ratsmitglieder – entgegen der “Satzung” – im Interesse ihrer Staaten (und auch Steuerzahler und Finanzvermögensbesitzer) stimmen.

Das ist realistisch. Zu ergänzen ist: Im mittlerweile klar minoritäten “DM-Block” ist so ein Verhalten nicht sicher – zummal das ja “gegen die Vorschriften ist”.

Nur wenn man ein solches Agieren gewollt wohlwollend interpretiert, ist glaubwürdig, dass für diese Leute Recht & Ideologie über den Interessen ihrer Bürger stehen.

Das heißt nicht, dass die EZB-Politik für die “Wohlhabenden” in Deutschland, den Niederlanden und Österreich, schlecht ist. Schon eher ist sie das für Steuerzahler und Sparbuchbesitzer in den genannten Ländern.

Die “Reichen” haben nämlich Immobilien, Fonds und Aktien, die z.B. die Verluste durch die Nullzinspolitik kompensieren können.

Enteignung von Oma Sparstrumpf

Die weiteres Thema, das ich hier nur streifen kann, betrifft die “Flüchtlingswelle”, der

  • Sinn jeden systemstabilisierenden Charakter abspricht (“Die Aufnahme der Flüchtlinge ist eine humanitäre Leistung des alternden deutschen Sozialstaates, die diesen ohnehin bald schwächelnden Staat eine Menge zuzsätzliches Geld kosten wird”) und
  • deren utopisch-sozialistische Grundierung ihm gegen den Strich geht. Erst Privateigentum ermöglicht für ihn Rechtsfrieden und Prosperität. Dessen Prinzipien gelten aber auch für kollektives Eigentum (“Clubgüter”). “Es kann ein System nur funktionieren, wenn es das Ausschlussprinzip gibt. Es muss also Grenzen geben, die besichert sind, die man nicht nach eigenem Gusto überwinden kann, sondern nur im Einvernehmen mit dem jetzigen Eigentümer.Und damit meine ich den Staat und die Bürger als Eigentümer der staatlichen Infrastruktur, des Staatsgebietes, der freien Natur (…) Dieser Staat muss natürlich auch in der Lage sein, sein Eigentum zu schützen.” Siehe dazu die Argumentation ab 58:45.

Als zweite pechschwarze Entscheidung des Juni 2016 sieht Sinn die sogenannte OMT-Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. An dieser arbeitet sich der Autor zu Beginn seines dritten Kapitels ab (“Der Weg in die Haftungsunion).

Dazu müsste man eigentlich viel erklären – was hier nicht möglich ist. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni daher nur zwei Sätze (YT-Video ab 1:30):

Mit diesem Urteil ist der EZB jetzt praktisch plein pouvoir gegeben worden alles zu tun, was sie will. Die EZB ist aber keine demokratische, sondern ist eigentlich eine diktatorische Institution, die unglaublich viele Vollmachten hat und ich glaube, das geht jetzt total in die falsche Reichtung (…).”

Mit der Entscheidung von Karlsruhe dürfe die EZB “alles tun um den Euro zu retten” (Draghi, Juli 2012) – beispielsweise die Zentralbankgeldmenge so rücksichtslos aufpumpen wie sie es mit ihrem derzeitigen Ankaufprogramm tut.

Die EZB drückt die Zinsen, was – wie Sinn feststellt – für eine Gläubigernation wie die Deutschen von Nachteil ist.

Das gilt freilich nur für die Gesamtheit der deutschen “Volkswirtschaft”.

Eine Einschränkung dazu muss für die Gruppe der wohlhabenden Deutschen gemacht werden, die aufgrund der Art ihrer Ersparnisse, ihrer “privaten Portfolios”, von der asset inflation profitieren, die die EZB erzeugt (siehe zu diesem Thema z.B. hier).

Das ist insofern ironisch, als “Wirtschaftsliberale” wie Sinn oder das Mises-Institut ja angeblich Interessenspolitik für die Reichen machen.

Sagt zumindest die Linke.

Von hier, wo ich sitze, nimmt sich eine solche Linie aber wie Interessenspolitik für die ausgabenbewusste Mindestrentnerin mit einem 20.000 Euro-Sparbuch aus.   :mrgreen:

Gepamperte Exportindustrie

Politicos und Medien pflegen das Gegenteil zu behaupten, dass nämlich die Geld- und Zinspolitik der EZB gut für die weniger Bemittelten sei.

Gemeint können damit höchstens frische Kreditnehmer sein (nur jene, die heute wirklich Kredit zu Mini-Zinsen bekommen).

Da ist es auch kein Wunder, dass Politicos und Journos i.d.R. so gute Europäer sind, dass sie gar nicht genug Integration bekommen können.

Das gilt auch für die dritte Gruppe von Profiteuren, die im Einleitung erwähnt wird.

Ich meine die Exportbetriebe – ein höchst relevantes Segment, das freilich auch nicht das Recht hat, sich auf Kosten Dritter pampern zu lassen.

Genau das macht aber die EZB – und das ist auch der Grund, warum in der deutschen Exportindustrie so viele so “gute Europäer” sind. Dieser sitzt die europäische DNA in der ersten Zeile der Gewinn- und Verlustrechnung – und nicht im Organ für die Corporate Responsibbility (oder so).

Sinn hat anhand des Target-Systems ja immer wieder erläutert wie das geht; wie die deutsche Exportindustrie ins Ausland in der Eurozone liefert und sich dabei Kredit vom Eurosystem holt (wofür die gesamte Volkswirtschaft Risiken ausgesetzt wird).

Wenn man die kühne These vertritt, dass die EZB auch etwas mit dem Euro-Kurs zu tun hat, fällt einem gleich ein weiteres Beispiel ein, womit EU/EZB die deutschen Exporteure pampern, diesmal nach außen.

Mit einem weichen Euro lassen sich im Dollar-Raum gute Geschäfte machen, und auch hier gibt es die, die dafür zahlen.

Um nicht missverstanden zu werden: Überschüsse in der Leistungsbilanz sind für alle, die z.B. Öl importieren wollen, lebensnotwendig und Staaten/Zentralbanken sollten alle, die das ermöglichen, pfleglich behandeln.

Das heißt freilich nicht, dass diesen mit öffentlicher Kreditersatzpolitik und gezielter Abwertung unter die Arme gegriffen werden sollte. Derlei wird in anderen Fallen als Währungsmanipulation gebrandmarkt (das tönt Sinn in Buch und Interview nur an).

Hier sind die Angaben für das bei Herder erschienenen Buch:

Hans-Werner Sinn, Der schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt. 2016.

Unabhängiger Journalist

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